Seit der Flutkatastrophe 2021 kennt jeder das Ahrtal. Wie sieht das Zusammenleben hier heute aus? Ein neues Youtube-Format von SWR Aktuell hat sich mit dem Thema beschäftigt.
Die Bilder von Juli 2021 aus dem Ahrtal sind um die Welt gegangen: Die Ahr, die mehrere Meter angestiegen ist und Häuser und Autos mit sich reißt. 135 Menschen sterben bei der Flutkatastrophe im Ahrtal. Auch heute sind noch an vielen Ecken die Spuren der Flut zu sehen: zahlreiche Baustellen an den Straßen und Gebäuden, neu gebaute Häuser neben Bauruinen - und dazwischen fließt die Ahr.
Viele Menschen haben wieder am alten Ort ihr Zuhause aufgebaut. Und: SWR-Umfragen zeigen, dass vor allem das Zusammenleben als positiv bewertet wird. Der Zusammenhalt sei seit der Flutkatastrophe größer.
Wiederaufbau - auch direkt neben der Ahr
Wie das Leben jetzt - über drei Jahre nach der Flutkatastrophe - an der Ahr aussieht und wie sich das Zusammenleben gestaltet, das wollten die Macher von der 360-Grad-Reportage genau wissen. Sie haben mit unterschiedlichen Menschen aus dem Ahrtal gesprochen.
So zum Beispiel mit Johannes. Der 23-Jährige ist in Dernau groß geworden, direkt an der Ahr. Er und seine Familie haben ihr Haus auch wieder aufgebaut, gerade mal einen Steinwurf vom Ufer der Ahr entfernt. "Nach dem Hochwasser kam natürlich die Frage auf, bauen wir das wieder auf oder lassen wir es sein und ziehen woanders hin? Aber gerade mit den Vereinen und ich habe auch fast alle meine Kumpels hier im Ort. Da haben wir auch direkt gesagt: Wir bleiben hier", erzählt er. Die Zeit nach der Flut habe zusammengeschweißt.
Es entwickeln sich Treffpunkte in den Dörfern direkt nach der Flut
Auch Rolf aus Marienthal hat sein Haus am alten Ort wieder aufgebaut. Oder eher: seine Frau hat den Wiederaufbau in die Hand genommen - denn Rolf hat sich nach der Flut ums ganze Dorf gekümmert. Für ihn war schon am ersten Tag klar, dass er mit anpacken muss: "Da war dann mein Gedanke: Wie geht man hier so etwas an? Wie kann man hier dafür sorgen, dass man wieder Essen, Trinken und Wasser hat? Es war ja nichts mehr da. Und da hab ich zu meiner Frau gesagt: Morgen früh werden wir als Erstes unsere Garage leer räumen, den Schlamm rausholen. Und dann machen wir dort erst mal so eine Art Basis, wo wir eine Kaffeemaschine hinstellen, wo alle eine Möglichkeit haben, sich mit den Grunddingen zu versorgen."
Das Ganze wurde dann so groß, dass Rolf alles irgendwann auf dem Dorfplatz organisiert hat. Inzwischen merke man aber, dass die Leute wieder zurück in ihren Häusern seien, erzählt er. Der Alltagstrott sei wieder da und der Katastrophenmodus beendet. Eins der Hauptthemen in Gesprächen sei aber nach wie vor, wie weit die Leute mit ihrem Wiederaufbau seien. Belastend sei vor allem der andauernde Baulärm: "Sonntags morgens um 6 Uhr fangen die Baumaschinen an. Man wird wach im Schlafzimmer und denkt: Oh Gott, jetzt geht es schon wieder los." Trotzdem stand für ihn immer fest, dass er in Marienthal bleibt: "Es gibt keine Sicherheit auf der Welt. Ich sage immer, egal, wo ich hinziehe, ich werde sowieso nicht den 100 Prozent sicheren Ort finden."
Vor allem ältere Menschen suchen Anschluss
Auch der Treffpunkt "Nelkenweg" ist nach der Flutkatastrophe entstanden, in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Bis heute gibt es hier zweimal die Woche Mittagessen und einmal die Woche das "Dienstags-Café", bei dem es Kuchen gibt. Vor allem Senioren kommen hier hin, erzählt Christiane, die Leiterin: "Also es ist mittlerweile wirklich ein Seniorentreff geworden. Wir haben viele ältere Menschen. Unsere Teenager sind so Ende 60 und unsere Stubenälteste ist 94." Christiane hat ab dem ersten Tag nach der Flut bei der Lebensmittelausgabe geholfen - daraus wurde dann ein Zelt mit Treffpunkt - und schließlich der heutige Raum, in einem Haus ein paar Straßen weiter.
Mittlerweile stehe auch gar nicht mehr die Flut im Mittelpunkt, erzählt Christiane. Es gehe viel mehr um die Gemeinschaft: "Ich bin sehr, sehr sicher, dass es auch vor der Flut schon Einsamkeit gab. Und dass viele alte Menschen isoliert waren und dass die Flut sogar vielen von denen die Möglichkeit gegeben hat, Kontakt zu knüpfen." Viele hätten auch ihren Blickwinkel auf das Leben verändert und würden vieles nicht mehr als so selbstverständlich nehmen: "Man ist dankbarer geworden, und auch diese Flutgeschichte hat die Leute hier zusammengeschweißt."
Nicht alle bleiben
Im Gegensatz zu Rolf und Johannes hat sich Rebecca nach der Flut entschieden, nicht mehr ins Ahrtal zurückzuziehen. Am Anfang war sich die Künstlerin noch nicht sicher, ob sie an der Ahr bleibt oder nicht - es habe sich aber dann so entwickelt: "Wir wussten nicht, wie man dann reagiert, wenn doch irgendetwas los ist, wieder mit Hochwasser." Heute lebt sie mit ihrem Mann an der Mosel in der Nähe von Koblenz.
Ihr Elternhaus in Dernau stand in der Flutnacht bis in den ersten Stock unter Wasser. Ihr sei schon in der Nacht klar gewesen, dass das Haus nicht mehr zu retten sei. Sie habe aber großen Respekt für alle, die im Ahrtal wieder aufbauen. Und es war für Rebecca nicht einfach, das Ahrtal ganz hinter sich zu lassen: "Ich hatte sonst immer Fernweh und da hatte ich auf einmal richtig lange Heimweh. Auch wenn ich eigentlich eine Person bin, die nicht wirklich krass im Ahrtal verwurzelt ist, wie viele aus dem Dorf oder in der Gegend. Aber trotzdem hat es sich angefühlt wie so ein Entwurzeln."
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