Was ist gerecht? Die Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit beschäftigt sowohl uns im Alltag als auch die große Politik. Doch was macht eine sozial gerechte Gesellschaft eigentlich aus? Darüber diskutiert Michel Friedman mit seinen Gästen am 22. November auf dem Hambacher Schloss.
Ist es gerecht, dass einige von ihrem Erbe leben können, während andere nicht wissen, von welchem Geld sie angesichts der Inflation Lebensmittel, Strom und Heizung bezahlen sollen? Ist es gerecht, dass manche Bürgergeld beziehen, während andere zwischen Supermarkt-Kasse und Putzhilfe drei Minijobs jonglieren, um über die Runden zu kommen? Ist es gerecht, dass einige ihre Kinder auf Privatschulen schicken, während andere in überfüllten Klassenräumen mit Flüchtlingskindern noch enger zusammenrücken müssen? Oder dass 100 Milliarden in die Bundeswehr investiert werden, aber der Kreis der Elterngeld-Berechtigten schrumpft?
In den vergangenen Wochen wurde bei vielen Diskussionen um Kindergrundsicherung, Bürgergeld, Elterngeld oder auch die Reform des Unterhaltsrechts wieder einmal deutlich, wie unterschiedlich das Empfinden von sozialer Gerechtigkeit ist: Was der eine gerecht findet, hält die andere für eine Unverschämtheit. Dennoch haben alle demokratischen Parteien Gerechtigkeit als einen Grundsatz der Politik in ihrem Leitbild.
Am 22. November diskutieren die FDP-Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg, die Publizistin Teresa Bücker und der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) Marcel Fratzscher auf dem Hambacher Schloss mit Moderator Michel Friedman über die Frage, was gerecht ist.
Fünf Fakten zum Thema Soziale Gerechtigkeit
Ein gerechtes Urteil zum Haushalt aus Karlsruhe?
Das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushalts 2021 - unter anderem aufgrund des Verstoßens gegen die Schuldenbremse - verleiht der Frage nun zusätzliche Brisanz. Denn damit fehlen 60 Milliarden Euro im Haushalt, vor allem für Maßnahmen zum Klimaschutz. Diese sind aber trotzdem notwendig: Woher also soll das fehlende Geld kommen?
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), fordert eine Reform der Schuldenbremse: "Die Versuche der Bundesregierungen in den vergangenen zwölf Jahren, die Schuldenbremse zu umgehen, haben immer absurdere Züge angenommen. Die Schuldenbremse ist nicht mehr zeitgemäß, weil sie der Politik notwendigen Spielraum nimmt, um Krisen zu bekämpfen und Zukunftsinvestitionen zu tätigen."
Zudem mahnt der Ökonom, die Folgen des Urteils und die Lasten des Klimaschutzes gerecht zu verteilen: "Nach den riesigen Subventionen für die Industrie sollte die Bundesregierung ihre Hilfen sozial ausgewogener gestalten und Menschen mit mittleren und geringen Einkommen nicht vergessen." So bleibe die Bundesregierung ihr Versprechen des Klimageldes weiterhin schuldig - diese Mittel flössen nun letztlich an die Industrie.
FDP: Leistungs- statt Verteilungsgerechtigkeit
Obwohl ebenfalls Koalitionspartner in der Ampel, begrüßte die FDP das Urteil. Die Schuldenbremse ist für sie elementarer Bestandteil verantwortungsvoller Haushaltspolitik. Die Bundestagsabgeordnete und Mitglied im FDP-Bundesvorstand, Linda Teuteberg, lehnt zudem die Fixierung auf das Verteilen statt das Erwirtschaften und damit die Forderung nach einer Vermögenssteuer ab. Im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft sieht sie die Grundlagen für Wohlstand und Freiheit in der Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft eines jeden Einzelnen. Wirtschaftlicher Wettbewerb sei in hohem Maße sozial.
Dem widerspricht Fratzscher: "Es gibt kaum ein Land, das Einkommen stärker und Vermögen geringer besteuert als Deutschland. Deshalb würde ich ein anderes Steuersystem empfehlen, das Arbeit entlastet und Vermögen stärker belastet. Die Topvermögenden, die oberen ein Prozent, würden dann zwar einen größeren Teil abgeben. Aber nicht aus Selbstzweck, weil Ungleichheit prinzipiell ein Problem ist, sondern um Menschen mit geringem Arbeitseinkommen steuerlich zu entlasten, damit sie mehr Chancen und Möglichkeiten haben, Vermögen aufzubauen. Die Ungleichheit verkleinert sich damit ‚von unten‘."
Geschlechtergerechtigkeit als Zeitgerechtigkeit
Die Publizistin Teresa Bücker macht in ihrem aktuellen Buch "Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit" dagegen auf eine ganz andere Dimension von sozialer Gerechtigkeit aufmerksam, nämlich der zwischen den Geschlechtern. Für sie ist zudem klar: Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung von Zeit.
"Wenn wir auf Geschlechtergerechtigkeit blicken, dann legen die Analysen nahe, dass Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern ohne eine neue Arbeitszeitaufteilung nicht zu erreichen ist", so Bücker. Die Zahlen seien eindeutig: Für viele Familien sei ein gemeinsames Arbeitsvolumen von 80 Stunden einfach nicht mit der Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen in Einklang zu bringen. Es fehlten allein in der Kinderbetreuung 400.000 Plätze - und Pflegeplätze für Alte seien auch zu wenig vorhanden. Die derzeit unbezahlte und vor allem von Frauen getragene Sorgearbeit müsse aber immer geleistet werden.
"Weniger arbeiten und Sorgearbeit gerechter verteilen"
"Eigentlich müssen wir darüber diskutieren, dass alle ein bisschen weniger arbeiten und Sorgearbeit gerechter verteilen", meint Teresa Bücker. "Wir brauchen eine generelle Arbeitszeitverkürzung, die es ermöglicht, gesellschaftliche Aufgaben anders zu verteilen. Wir werden Probleme wie Fachkräftemangel oder die Sicherung der Rente nicht dadurch lösen können, die Erwerbstätigkeit von Frauen zu erhöhen. Das ist einfach unrealistisch, wenn wir die vorhandene Infrastruktur daneben iegen." Statt falscher Versprechen sei es daher an der Zeit für eine ehrliche Debatte, wie sich die Zukunft gerechter gestalten lasse.
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