An den Schreck an der Supermarktkasse haben sich wohl die meisten notgedrungen gewöhnt. An die Gründe, warum die Preise dauerhaft steigen, auch: Rohstoffknappheit, Lieferengpässe und vor allem die extrem gestiegenen Energiepreise. Dennoch werden viele Kundinnen und Kunden das Gefühl nicht los, dass die Lebensmittelpreise trotz alledem übermäßig angestiegen sind. Zu Recht – bestätigt der Inflationsexperte Andy Jobst vom Kreditversicherer "Allianz Trade". Er bestätigt den Eindruck, der Preisanstieg bei Lebensmitteln habe insgesamt "über Gebühr" stattgefunden: Rund ein Drittel des Anstiegs sei für ihn "nicht zu erklären", was unter anderem mit "Mitnahmeeffekten" zu tun habe.
Wer davon profitiert und wann die Preise voraussichtlich endlich wieder sinken, hat er im Gespräch mit SWR Aktuell-Moderator Pascal Fournier erklärt.
SWR Aktuell: Wie erklären Sie sich diesen deutlichen Preisanstieg bei Lebensmitteln?
Andy Jobst: Natürlich ist ein wichtiger Treiber der starke Anstieg der Energiekosten. Die haben dazu geführt, dass Produzenten von Lebensmitteln diese Kosten auf die Produkte aufschlagen und dementsprechend an den Konsumenten weitergeben. Wir haben jetzt auch steigende Lohnkosten, die gerade im produzierenden Gewerbe durchschlagen, was zusätzlichen Preisdruck ausübt. Es ist eine Kombination aus Energiepreisen plus Lohnkosten, die die Preise in die Höhe treiben. Und Sie haben völlig Recht: Wir waren über den gesamten Jahresverlauf sehr besorgt um die Energiepreise - und jetzt wird das Zepter wirklich übergeben an die Nahrungsmittelpreise, die jetzt in diesem Jahr genauso viel zu Inflation beitragen werden wie letztes Jahr die Energie.
SWR Aktuell: Das heißt aber im Endeffekt, "alles in Ordnung" - es ist nachvollziehbar. Erst waren Energie und Rohstoffe teurer und jetzt in der Folge die Produkte, die sich daraus ergeben.
Jobst: Nicht ganz, wenn wir uns ansehen, wie sich die Energiepreise entwickelt haben im Vergleich zu den Lebensmittelpreisen. Da ist doch festzustellen, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise über Gebühr stattgefunden hat. Wir haben ein paar Modelle dazu entwickelt in den letzten paar Monaten: Dabei ist festzustellen, dass gerade in Deutschland ungefähr ein Drittel des Preisanstiegs für Lebensmittel nicht zu erklären ist. Und wenn wir weiter in die Tiefe gehen, uns ansehen, wie die Preise entstehen, dann lässt sich feststellen, dass im Übergang von Produktion zum Vertrieb die Margen in bestimmten Bereichen angezogen haben.
SWR Aktuell: Mit anderen Worten, es gibt da Mitnahmeeffekte?
Jobst: Korrekt.
SWR Aktuell: Bei wem?
Jobst: Bei den Herstellern müssen wir differenzieren. Wir sehen da eine Ursache, aber auch im Vertriebsbereich. In bestimmten Sektoren sehen wir, dass Margen angezogen haben. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Milch ist zum Beispiel stark aufgefallen, was Preisanstiege angeht, Milch und Eier. Wir wissen, dass der Milchmarkt in Deutschland einen intensiven Wettbewerb hat. Demzufolge ist die Margen-Mitnahme nicht bei den Produzenten, sondern vielmehr im Vertrieb zu suchen. Im Umkehrschluss, im Bereich von Gemüse und Obst ist es umgekehrt. Da haben wir den Preistreiber mehr auf Produzentenseite anstatt beim Vertrieb. Insgesamt lässt sich feststellen, dass wir durch die Kombination von starkem Preisanstieg und den Mitnahmeeffekten beim Vertrieb und teilweise bei der Produktion momentan noch immer einen sehr starken Preisanstieg bei Lebensmitteln zu verzeichnen haben.
SWR Aktuell: Normalerweise reguliert sich so eine Preissteigerung über den Wettbewerb. Wer versucht, zu viel rauszuziehen, hat irgendwann ein Absatzproblem. Warum funktioniert das nicht an dieser Stelle?
Jobst: Das sehen wir einerseits schon bei bestimmten Bereichen, in dem Haushalte jetzt mit dem Konsum zurückfahren. Nur das passiert in gewisser Weise verzögert. Die Momentaufnahme ist, dass wir einen sehr starken Preisanstieg haben aufgrund der noch sehr starken Energiepreise und Lohnpreiselemente in der Preisbildung. Jetzt sparen aber Haushalte mittlerweile ganz stark.
Aufgrund reduzierter Nachfrage und durch bestehenden Wettbewerb sollten sich die Preise in der zweiten Jahreshälfte wieder verlangsamen. Nächstes Jahr sollte sich dann aufgrund der Wettbewerbseffekte und der geringeren Nachfrage eine so genannte disinflationäre oder sogar deflationäre Entwicklung bei den Lebensmittelpreisen abzeichnen.