Wie gefährlich ist die sogenannte Reichsbürger-Bewegung? Darüber hat ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt mit Frank Dittrich vom Landesamt für Verfassungsschutz BW gesprochen.
Immer wieder sorgen sogenannte Reichsbürger durch Angriffe auf die Polizei für Schlagzeilen – so etwa in Boxberg-Bobstadt (Main-Tauber-Kreis), wo ein Mann Polizisten beschossen hat oder in Efringen-Kirchen (Kreis Lörrach), wo ein Autofahrer bei einer Verkehrskontrolle einen Beamten umgefahren haben soll. Im Interview mit ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt erklärt Frank Dittrich, Stellvertretender Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, welche Gefahr von der Reichsbürger-Bewegung ausgeht und ob es in Baden-Württemberg regionale Schwerpunkte der Szene gibt.
Holger Schmidt: "Reichsbürger" wollen das Deutsche Reich wieder. Was versprechen sich diese Menschen davon?
Frank Dittrich: Die "Reichsbürger"-Bewegung ist eine sehr, sehr diffuse Ideologie, die zum Teil daraufhin zielt, die Grenzen Deutschlands aus den Jahren 1871 bis 1914 wiederherzustellen. Da steht sicherlich ein gewisses Großmachtdenken dahinter. Aber es gibt auch Reichsbürger, die von ihrer Ideologie her davon ausgehen, dass Deutschland immer noch unter Besatzungsrecht der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg steht.
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Jetzt könnte man ja sagen: Sollen die Leute das doch glauben. Aber Sie halten die "Reichsbürger"-Bewegung trotzdem für gefährlich. Warum?
Dittrich: Die Gefährlichkeit der "Reichsbürger"-Bewegung ergibt sich aus einer sehr hohen Affinität in Richtung Beschaffung von Waffen, Besitzes von Waffen. Das Problem ist, dass sich "Reichsbürger" letztlich auch in einer Art Verschwörungsideologie wiederfinden, die vor allem dadurch geprägt ist, von einer Art geheimen Elite manipuliert und missbraucht zu werden - nämlich der Regierung. Und in dieser Situation fühlt man sich auch nicht an Recht und Gesetz gebunden.
Die "Reichsbürger"-Bewegung gibt es ja eigentlich schon relativ lang und doch sagen Ihre Zahlen, dass sie in den vergangenen Jahren massiven Zulauf bekommen hat. Woran liegt das?
Dittrich: Wir müssen feststellen, dass gerade die Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung dazu geführt hat, dass "Reichsbürger"-Narrative wesentlich sichtbarer geworden sind in der öffentlichen Wahrnehmung. Und dadurch auch für Teile der Bevölkerung eine gewisse Attraktivität ausgeübt haben.
Sie haben die Corona-Maßnahmen angesprochen als etwas, was die "Reichsbürger"-Szene sehr bewegt. Kann man insgesamt sagen, dass der Staat im Umgang mit der "Reichsbürger"-Bewegung in der Vergangenheit Fehler gemacht hat, vielleicht auch zu nachlässig war?
Dittrich: Wir beobachten die gesamte "Reichsbürger"-Bewegung seit 2016, nachdem es in dem Jahr zu einem Tötungsdelikt durch "Reichsbürger" kam. Zuvor hatten wir, das muss man eingestehen, lediglich den rechtsextremistischen Teil der "Reichsbürger"-Szene im Blick. Und insoweit war da sicherlich ab diesem Zeitpunkt auch Nachholbedarf zu konstatieren.
Sie sprechen einen Fall an, als in Bayern ein "Reichsbürger" bei dem Versuch, ihm die Waffen abzunehmen, einen Polizeibeamten getötet hat. In den vergangenen Monaten gab es weitere, sehr gravierende Ereignisse in Baden-Württemberg, zum Beispiel in Lörrach (Versuch einen Polizisten zu überfahren) und in Boxberg (Schüsse auf die Polizei). Für mich sieht es nach einer Zunahme der Gewalt aus.
Dittrich: Wir müssen einerseits einen Anstieg des Personenpotenzials im Bereich der "Reichsbürger" verzeichnen. Wir sind bundesweit bei etwa 20.000 und allein in Baden-Württemberg inzwischen bei knapp 4.000 Personen. Und ein erheblicher Teil, wir schätzen etwa zehn Prozent, wird sicherlich als gewaltorientiert oder gar gewaltbereit einzuschätzen sein.
Wenn wir uns Baden-Württemberg anschauen, gibt es regionale Schwerpunkte der "Reichsbürger"-Bewegung?
Dittrich: Es sind schätzungsweise nur 20 Prozent der "Reichsbürger" bestimmten Organisationen zuzuordnen. Natürlich gibt es da insoweit gewisse regionale Schwerpunkte, aber im Übrigen verteilt sich das Milieu im Prinzip über das ganze Land. Das gilt aber auch für Deutschland insgesamt, weil es auch gar nicht herkömmlicher Strukturen bedarf, sondern das Internet als Vernetzungsmedium herkömmliche Vereins- oder Organisationsstrukturen ersetzt. Und bei den regionalen Schwerpunkten in Baden-Württemberg spielt sicherlich der Großraum Stuttgart eine enorme Rolle. Aber auch der Raum Karlsruhe bis Pforzheim und auch der südliche Teil von Baden-Württemberg.
In der Szene ist immer wieder vom "Tag X" die Rede. Was ist das für ein Tag? Was verbindet die Szene mit diesen Gedanken?
Dittrich: Der "Tag X" ist eine Art Zukunftsszenario, das für Extremisten vor allem aus dem rechtsextremistischen Milieu seit Jahren ein Thema ist, weil man sich eine Situation herbeiwünscht, vorstellt und in Teilen auch aktiv herbeiführen möchte, in der letztlich sämtliche staatlichen Strukturen des Gesellschaftssystems und das politische System zusammenbrechen und es zu einer Art Umsturz, einer Art Revolution kommt, sodass dann die extremistischen Kräfte letztlich davon profitieren und auch die Macht im Staat übernehmen können.
Für wie realistisch halten Sie so ein Szenario, dass es wirklich losgehen könnte mit einer Art Umsturz?
Dittrich: Wir leben in einer gefestigten Demokratie. Insoweit gehe ich mal davon aus, dass eine derartige Entwicklung letztlich ohne die Unterstützung und eine Vermittelbarkeit in der Gesellschaft nicht realisierbar sein wird. Aber wir müssen immer einkalkulieren, dass es in sehr kleinen Teilen des extremistischen Milieus Versuche geben wird, derartige Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen.
Nun haben wir über "Reichsbürger" gesprochen und immer wieder zwischendrin ist auch von Rechtsextremen die Rede gewesen. Was hat das miteinander zu tun? Ist jeder "Reichsbürger" per se auch Rechtsextremist? Ist der per se auch Antisemit? Wie verhalten sich diese unterschiedlichen Phänomene zueinander?
Dittrich: Die "Reichsbürger"-Ideologie als solches baut jetzt nicht unbedingt auf dem Rechtsextremismus auf. Aber es gibt natürlich wesentliche Bestandteile des Rechtsextremismus, wie den Antisemitismus, der eben sich auch in den reichsbürgertypischen Verschwörungsideologien wiederfindet. Zum Beispiel die Vorstellung, von einer geheimen, im Zweifel jüdischen Elite manipuliert und beeinflusst zu werden, die das Regierungshandeln in der Hand hat und die Regierung als Marionetten benutzt. Und da gibt es natürlich Überschneidungen mit dem Rechtsextremismus, ebenso in der Vorstellung, hier gebietsrevisionistische Argumentationsmuster vorzubringen, das Deutsche Reich wiederherzustellen. Aber der Anteil von Rechtsextremisten in der "Reichsbürger"-Szene selbst wird von uns als eher gering eingestuft.
Der Verfassungsschutz will ein Frühwarnsystem der Demokratie sein. Hat der Verfassungsschutz auch ein Rezept, wie man mit den "Reichsbürgern" umgehen kann, dass sie nicht größeren Einfluss, nicht größeren Zulauf kriegen?
Dittrich: Es ist zwingend notwendig, so wie in den letzten Jahren auch geschehen, dafür zu sorgen, dass "Reichsbürger" nicht in legalem Waffenbesitz sind, dass entsprechende Waffenerlaubnisse entzogen werden. Da sind wir zusammen mit der Polizei und den Waffenbehörden im Land natürlich auch konsequent und versuchen, dies zu erreichen. Für alle Extremismusphänomene gilt: Es bedarf letztlich auch der Aufklärung der Öffentlichkeit, um zu verhindern, dass derartige Populisten und Extremisten anschlussfähige Positionen in die Öffentlichkeit bringen, die ihnen dann auch noch mehr Zulauf verschaffen. Also letztlich geht es hier auch um Wertevermittlung, um Bildung, Medienkompetenz. Und das sind Dinge, die gehen weit über die Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden hinaus.