Schulabbrecher

Die letzte Chance auf einen Abschluss

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Autor/in
Elena Weidt
Bild von Elena Weidt, Multimedia-Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell
Katharina Forstmair
Katharina Forstmair
SWR Data Lab
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Jährlich gehen in Rheinland-Pfalz mehrere tausend Schüler und Schülerinnen ohne Abschluss von der Schule. Lehrerin Julia Molter will Schulabbrechern eine letzte Chance geben.

Um zur Realschule plus in Idar-Oberstein zu kommen, wo Lehrerin Julia Molter unterrichtet, schlängelt man sich zunächst eine ganze Weile einen Berg hinauf. Eine Schule mit einer wunderbaren Aussicht. Es ist still hier. Gerade läuft der Unterricht. Im Schulsekretariat begrüßt Bonny, Molters französische Bulldogge, alle Kommenden und Gehenden.  

"Sie ist ein ausgebildeter Schulhund", erklärt Julia Molter und streichelt die friedliche Bonny. Sie war schon in der Schule in Trier, wo Molter vorher unterrichtete, mit dabei im Unterricht. Manche der Schüler seien nur deswegen in die Schule gekommen, erklärt die 37-Jährige lachend. Ein großes Problem sei "Schulabsentismus", also dass Schüler aus verschiedenen Gründen einfach nicht mehr kommen. "Alles was dagegen hilft, ist erstmal gut", findet Molter.

Lehrerin sitzt in der Hocke auf den Fußboden eines Klassenzimmers, vor ihr liegt ein Hund.
Lehrerin Julia Molter und ihr Schulhund Bonny, der den Unterricht der KoA-Klasse unterstützt.

"Es ist auch für mich als Lehrerin die letzte Chance"

Bonny wird also auch in der neuen KoA-Klasse mit dabei sein, die es ab dem kommenden Schuljahr zum ersten Mal an der Realschule plus in Idar-Oberstein geben wird. "KoA" steht für "Keiner ohne Abschluss" und soll diejenigen auffangen, die bisher in neun Schuljahren keinen Abschluss geschafft haben. Es ist eine letzte Chance. "Aber auch für mich als Lehrerin ist das die letzte Chance, noch etwas dagegen zu tun", sagt Julia Molter.

2881 Schülerinnen und Schüler haben 2022 in Rheinland-Pfalz die Schule ohne Abschluss verlassen. Das sind rund 8 Prozent aller Schulabgängerinnen und -abgänger. Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist die Zahl in Rheinland-Pfalz in den letzten zehn Jahren besonders stark gestiegen.

Ein normaler Schulalltag fällt schwer 

"Wir sind hier nicht die Resterampe", das klarzustellen ist Julia Molter wichtig, wenn es um ihre künftige KoA-Klasse geht, die sie gemeinsam mit einem Kollegen leiten wird. Alle hier hätten ihr Päckchen zu tragen, sei es im familiären Bereich, seien es Krankheiten oder Schicksalsschläge. Manche kommen aus schwierigen Elternhäusern, wo die Eltern nicht mehr wissen, was die Kinder tun. "Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn einem etappenweise ein normaler Schulalltag schwer fällt." 

Was man nicht abschaffen kann, ist, dass es schon bei Schuleintritt ungleiche Voraussetzungen gibt. Was man aber verlangen kann ist, dass die Schule sich dem widmet.

"Frau Molter versteht mich", sagt auch Justin, 16, ihr künftiger Schüler, der an diesem Morgen auch zum Gespräch gekommen ist. "Ich werde es dieses Mal schaffen", sagt er. Justin hat ADHS. Er konnte dem Unterricht bisher nur schwer folgen, er schwänzte viel und lenkte andere ab. Am Ende schafft er die 9. Klasse nicht. "Ich habe ihn derzeit in meiner normalen Klasse. Ich weiß, was er eigentlich könnte in einem anderen Rahmen", sagt Molter, die auch in ihrer vorherigen Schule schon in einer KoA-Klasse unterrichtet hat.

Kleine Klassen, mehr Betreuung

Der andere Rahmen für Justin wird nun folgendermaßen aussehen: Das künftige Klassenzimmer ist wesentlich größer, mit einer Sport- und Ruheecke sowie einem großen Arbeitsbereich für jeden einzelnen. Die Klasse bleibt hingegen klein: 16 Schüler und Schülerinnen plus zwei Lehrkräfte. "Eines der großen Probleme in der Regelschule sind die großen Klassen", kritisiert Molter. Da gebe es wenig Spielraum, um auf Probleme einzugehen. Und auch die KoA-Klasse könnte locker größer sein. Denn die Realschule plus in Idar-Oberstein gehört zum Landkreis Birkenfeld, der Region mit den meisten Schulabbrechern in Rheinland-Pfalz, wie die Recherche mit den Datenjournalisten des SWR Data Lab, zeigt.

Die Schüler für etwas begeistern

In der KoA-Klasse gibt es keinen festen Lehrplan, den Molter durchboxen muss, keine 45-Minuten-Taktung:

Wir können individuell schauen, was braucht wer und das erlaubt auch eine ganz andere Bindung zu den Schülerinnen und Schülern.

Auf dem Stundenplan stehen auch lebenspraktische Dinge, zum Beispiel "wie schließe ich einen Vertrag oder ein Girokonto ab, was kostet mich eine Wohnung, das Leben", erklärt Molter. Die KoA-Klasse soll es mit mehr Zeit und Betreuung schaffen, die Schüler wieder für etwas zu begeistern. Justins großer Wunsch: "Dass ich endlich Spaß an Schule finde. Ich möchte gerne in diese Klasse, weil ich weiß, was ich für Vorteile dadurch bekomme."

"Ich muss wissen, wer vor mir sitzt"

Ohne festen Lehrplan bedeutet nicht, dass es in der KoA-Klasse wild durcheinander geht. Im Gegenteil, die Schüler brauchen viel Struktur, nur eben eine, die auf sie zugeschnitten ist. Dazu gehört auch, dass schon im Vorfeld geschaut wird, wer welchen Beruf spannend findet und entsprechende Praktika organisiert werden. Der KoA-Stundenplan sieht vor: drei Tage Unterricht, zwei Tage Praxis in einem nahe liegenden Betrieb. Justin will was Handwerkliches, was mit Metall machen. Gerade erst kam ein Brief von einem Betrieb für einen Praktikumsplatz. Justin zeigt ihn Molter und fragt, ob er das richtig verstanden hat. "Ja, das ist ein Vielleicht", erklärt sie ihm.

Lehrerin steht rechts im Bild mit zwei Schülern links von ihr im Klassenzimmer und spricht mit ihnen.
Justin und (v.l.) Gabriel sind zwei der KoA-Schüler, denen Lehrerin Julia Molter zum Abschluss verhelfen will.

Die beiden verstehen sich. Das ist die Basis, sagt Molter: "Ich muss sehen, wer da vor mir sitzt. Einfach nur etwas austeilen und einsammeln, das funktioniert hier nicht". Molter unterstützt auch am Wochenende, wenn etwas Dringendes anliegt, hilft auch schon mal bei der Wohnungssuche oder bei komplizierten Dokumenten.

An Schulen mit einer aufmerksamen Schulkultur fühlen sich die Schüler und Schülerinnen wohler und das ist eine wichtige Voraussetzung für den Bildungserfolg.

Keine reine Notenbeurteilung 

Auch wenn das Zeugnis am Ende etwas anders aussieht, bekommen die KoA-Schüler doch ein normales Abschlusszeugnis. Mit dem Unterschied: Molter darf zu den Noten auch Notizen schreiben, kann so Schwächen erklären oder andere Stärken hervorheben.

Der Erfolg gibt diesem Konzept Recht: Mehr als 80 Prozent schaffen in den KoA-Klassen ihren Abschluss. Das mache sie unheimlich stolz, so Julia Molter. Die Erfolgserlebnisse seien in diesem Bereich tatsächlich größer: "Das ist vielmehr Schule, wie ich sie mir vorstelle", erklärt Molter. Auch bei Justin hat sie ein gutes Gefühl, dass er seine Chance nutzen wird.

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