Hausgemeinschaft besonderer Art

Wie kranke Ukrainer in Stuttgart Weihnachten feiern

Stand
Autor/in
Susanne Babila

Flucht, Fremde, Krankheit und Weihnachten - all das kommt beim Projekt VeronikaBerg zusammen. Die Hausgemeinschaft in Stuttgart bietet kranken Menschen aus der Ukraine Zuflucht.

Ukrainische Familien, deren Angehörige chronisch krank sind oder körperliche oder geistige Behinderungen haben, sind im Krieg und auf der Flucht besonders verletzlich. Deshalb bietet die Stuttgarter Organisation KinderBerg International diesen Familien seit Mai diesen Jahres einen Zufluchtsort und soziale, medizinische sowie psychologische Betreuung. Sie sind in einem Haus im Osten der Landeshauptstadt untergebracht, das die Diözese Rottenburg zur Verfügung stellt. SWR-Redakteurin Susanne Babila hat dort den Leiter und einige Familien besucht.

Olexsandr Ivanytskyi führt uns durch das Haus, in dem momentan fünf ukrainische Familien untergebracht sind. Der 36-Jährige leitet das Projekt VeronikaBerg und begleitet die Familien, in denen ein Angehöriger chronisch krank ist oder eine psychische oder körperliche Behinderung hat.

Wir besuchen Familie Skhola im ersten Stock. In der Zweizimmerwohnung leben Natalia, ihr Sohn Serhii und ihre Mutter Valentina. Sie sitzen in einer kleinen Küche zusammen. Der 15-jährige Serhii leidet an einer frühkindlichen Hirnschädigung und ist spastisch gelähmt. Er kann sich nur schleppend bewegen. "Ich wünsche mir so sehr, dass es endlich Frieden in der Ukraine gibt. Damit ich wieder zu meinen Freunden zurückkehren kann. Und dass das nächste Jahr besser wird als dieses."

Die Familien bereiten sich gemeinsam aufs Weihnachtsfest vor. Was sie sich am meisten wünschen, sehen Sie im Instagram-Video:

Familie floh vor neun Monaten aus Cherson

Serhii floh mit seiner Mutter, seiner Großmutter und seinem Bruder aus der Heimatstadt Cherson. Das war vor neun Monaten, als die russische Armee die Großstadt im Süden des Landes besetzte, erzählt seine Mutter Natalia:

"Sie haben uns ein paar Stunden Zeit gegeben, die Stadt zu verlassen. Wir haben das Nötigste gepackt. Ich setzte die Kinder und meine Mutter ins Auto und dann fuhr ich so schnell wie möglich los, alles war voller Minen. Es war ein einziger Albtraum."

"Serhii darf nicht zu lange sitzen, er bekommt Krämpfe und meine Mutter hatte Krebs, musste ständig Medikamente nehmen. Das war alles sehr schwer", erzählt sie. Serhiis Vater ist in Cherson geblieben. Die Stadt wurde zwar vor kurzem von der Ukraine zurückerobert, aber es gibt kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung.

"Deutschland hat uns aufgenommen, dafür sind wir sehr dankbar", erklärt Natalia. "Meiner Mutter geht es wieder besser, Serhii wird hier gut betreut und hat sogar einen Freund gefunden." Iwanko ist 13 Jahre alt und hat einen Gendefekt. Deshalb ist seine körperliche und geistige Entwicklung verzögert. Beide Jungen gehen in die Margarete-Steiff-Schule, eine Stuttgarter Einrichtung für Kinder, die aufgrund ihrer Behinderungen nicht oder noch nicht an einer Grund- oder weiterführenden Schule unterrichtet werden können.

Das Projekt VeronikaBerg in Stuttgart gibt Familien aus der Ukraine Zuflucht
Psychologe Olexsandr Ivanytskyi leitet das Projekt und begleitet die Familien.

Begleitung bei Behördengängen und Arztbesuchen

Projektleiter Ivanytskyi steht den Familien mit Rat und Tat zur Seite. Er übersetzt amtsdeutsche Formulare, begleitet sie zum Arzt, ins Krankenhaus oder zu Behörden. Er liebe seine Arbeit, erzählt er, und wollte schon immer mit Menschen, die eine geistige oder körperliche Behinderung haben, arbeiten und sie versorgen.

Ivanytskyi ist von Haus aus Psychologe und hat viele Jahre für ein ukrainisches Onlineportal gearbeitet. Er floh über die Türkei nach Deutschland und kam vor fünf Monaten in den Südwesten. "Ich kenne Baden-Württemberg, denn vor elf Jahren habe ich in Görwihl im Landkreis Waldshut ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht und dabei Deutsch gelernt", so der 36-Jährige. Das hat ihn für die Arbeit prädestiniert, meint Suzana Lipovac, die Gründerin der Menschenrechtsorganisation KinderBerg International, die ihn nach kurzer Zeit einstellte.

In der Fremde krank sein

Ivanytskyi kümmert sich auch um die Ukrainerin Tatiana Fisenko. Die 55-jährige Pharmazeutin floh im Mai aus Odessa. Sie erkrankte in der Ukraine an Speiseröhrenkrebs. Die ersten Tage verbrachten sie in der Flüchtlingsunterkunft in Sindelfingen und kamen dann im Mai zum VeronikaBerg. Dann wurde Tatiana Fisenko hauptsächlich im Diakonie-Klinikum in Stuttgart behandelt. "Es geht mir besser, das sagen auch die Ärzte. Ich habe eine Chemo- und Strahlentherapie hinter mir. Das war sehr schmerzhaft. Ich nehme immer noch Tabletten. Es ist nicht schön, in der Fremde krank zu sein. Aber hier geht es mir gut."

Tatiana teilt sich ein Zimmer mit ihrer Tochter Olha und ihrer Katze Mathilda, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben.
Tatiana Fisenko floh im Mai aus Odessa, gemeinsam mit ihrer Tochter Olha und Katze Mathilda.

Tatiana teilt sich ein Zimmer mit ihrer Tochter Olha und ihrer Katze Mathilda, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben. Mathilda schläft friedlich auf der Fensterbank. Auch Yuliia und Maksym Zlatovchen flohen mit ihrer Tochter aus Odessa nach Deutschland. "Yuliia  leidet an einer seltenen Nierenerkrankung. In der Ukraine konnten wir nicht mehr bleiben", erzählt ihr Ehemann. Denn:

"Yuliia muss häufig in die Klinik, aber die Krankenhausbetten sind mittlerweile von verletzten Soldaten belegt. Wir hatten in Odessa eine Ferienpension am Meer, es war wunderschön, aber seit Ausbruch des Krieges ist es schwer zu überleben, vor allem für Yuliia."

Ihr Arzt habe bereits Yuliias Krankenbericht aus der Ukraine angefordert. Im Stuttgarter Nierenzentrum werde sie durchgecheckt und behandelt.

Das Projekt VeronikaBerg in Stuttgart gibt Familien aus der Ukraine Zuflucht
In Odessa hatten Yuliia und Maksym Zlatovchen eine Ferienpension am Meer. Yuliia leidet an einer Nierenerkrankung und muss häufig ins Krankenhaus.

Weihnachten wird gleich zweimal gefeiert

Am Abend dekorieren Natalia Skhola und Oleksandr Ivanyetzky den Gemeinschaftsraum mit kleinen Sternen, einer Lichterkette und Weihnachtskerzen. Denn sie und die anderen Familien wollen gemeinsam Weihnachten feiern. Sogar zwei Mal. Am 25. Dezember und zum orthodoxen Fest am 7. Januar. Iwanko wünscht sich ein E-Book, um besser lesen zu lernen. Serhii hofft auf eine schnelle Rückkehr. Und Natalia? "Wir wünschen uns alle nur Frieden", sagt sie, "dann können wir wieder nach Hause und unsere Liebsten in die Arme schließen."

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