Michael Füchtner ist knapp drei Jahre alt, als er die Bombardierung Ulms im Zweiten Weltkrieg überlebt. 80 Jahre danach singt er bei einem Gedenkkonzert zum 17. Dezember 1944.
Kurz bevor die Innenstadt Ulms im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt wird, feiert der knapp dreijährige Michael mit seiner Mutter und den Geschwistern in der Ulmer Dreifaltigkeitskirche beim Kindergottesdienst den 3. Advent. Jetzt kehrt der 82-Jährige an diesen Ort zurück - als Sänger bei einem Gedenkkonzert.
"Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden…" - klingt es durch den großen Saal im "Haus der Begegnung" in Ulm. Der Motettenchor der Münsterkantorei probt "Ein Deutsches Requiem" von Johannes Brahms. Es soll am 17. Dezember im Gedenken an die Zerstörung Ulms vor 80 Jahren erklingen.
82-Jähriger singt bei Gedenkkonzert in der Pauluskirche
Inmitten der Bässe sitzt Michael Füchtner und schaut konzentriert in die Noten. Der 82-Jährige ist erst vor ein paar Wochen in den Chor eingetreten - aus einem ganz bestimmten Grund: Er will bei diesem Gedenkkonzert als Überlebender dieses schicksalhaften Abends mitsingen. Mit großer Dankbarkeit sitze er heute hier, sagt der frühere Kinderarzt.
Vor Bombenangriff: Kindergottesdienst in Dreifaltigkeitskirche
Genau hier, in der früheren Dreifaltigkeitskirche, war er als kleiner Junge an diesem 17. Dezember 1944. Die Kirche wird wenig später bei dem Angriff schwer getroffen, brennt vollkommen aus. Sie wird später zum "Haus der Begegnung" umgebaut. Hier probt heute der Motettenchor.
Zusammen mit seiner Mutter und seinen vier älteren Brüdern besucht der kleine Michael in der Kirche den Kindergottesdienst an diesem nebligen Dritten Advent. "Da hat jeder im Gottesdienst eine Tüte aus ganz schlechtem, hartem braunem Packpapier bekommen. Und da waren zwei, drei Äpfel und Lebkuchen drin. Das war natürlich für die Kinder im Krieg etwas Besonderes."
Hinweis auf bevorstehenden Angriff: Familie rennt nach Hause
Der Pfarrer bekommt wohl den Hinweis, dass ein Angriff bevorsteht und schickt die Gottesdienstbesucher nach Hause. "Dann sind wir heimgerannt. Es herrschte Verdunklung, die Stadt war ganz schwarz." Die Familie erreicht ihre Wohnung auf dem Michelsberg. Sein Vater ist im Krieg, als Offizier in Stalingrad. Die Familie erfährt erst später, dass er an diesem 17. Dezember 1944 bereits tot ist.
Bomben fallen schon auf Ulm, als Familie den Bunker erreicht
Um 19:23 Uhr beginnt der Angriff. Es ist ein Angriff in drei Wellen. Rund 300 Flugzeuge mit britischen, kanadischen und australischen Einheiten werfen rund 100.000 Spreng- und Brandbomben über der leicht brennbaren mittelalterlichen Stadt ab.
Die Mutter rennt beim Klang der Sirenen mit ihren fünf Söhnen in den nächstgelegenen Bunker. Es ist der Bierkeller der Wulle-Brauerei an der Weinsteige. "Da fielen die ersten Bomben. Und die hatten die Stahltür an diesem Keller schon zugemacht. Da hat meine Mutter mit Händen und Füßen an diese Tür gedonnert und dann durften wir noch rein." So schildern es die älteren Brüder Michael Füchtners später.
Bis heute ein Bild im Kopf: "Mein Stiefelchen war offen"
Der heute 82-Jährige hat aber auch eine eigene Erinnerung an diese Minuten: "Als wir hinunter gerannt sind, da war ich irritiert, weil mein rechtes Stiefelchen noch offen war. Da hat wohl die Zeit nicht mehr gereicht, es zuzumachen. Das Bild habe ich noch immer im Kopf."
Draußen regnet es Bomben, drinnen im stockdunklen Bunker zündet ein Luftschutzwart eine Kerze an. "Ich habe die Kerze gesehen und laut 'Burtstag!' gesagt" - so wird es später in der Familie berichtet. Die Menschen in dem Bunker überstehen den Bombenangriff. Später erfahren die Füchtners, dass der ihnen eigentlich zugewiesene Bunker einen Volltreffer abbekommen hatte. "Keiner dort hat den Angriff überlebt", sagt Michael Füchtner mit leiser Stimme.
Mehr als 700 Menschen sterben bei Angriff auf Ulm
Knapp eine halbe Stunde dauert der Bombenangriff auf Ulm. Dabei sterben mehr als 700 Menschen, sie ersticken in Luftschutzbunkern, verbrennen oder werden von Trümmern erschlagen. Mindestens 600 werden verletzt. Fast die gesamte Innenstadt wird zerstört. 25.000 Menschen sind nach dem 17. Dezember 1944 obdachlos.
Hella Füchtner und ihre fünf Söhne kehren nach der Entwarnung in die Wohnung in der Fabristraße am Michelsberg zurück. Wie durch ein Wunder steht das Haus noch. Die Mutter hatte die Fenster vor dem Angriff aufgemacht, damit die Druckwellen der Bomben nicht die Scheiben zerschlagen. "Mein Bruder hat mir erzählt, die ganze Wohnung sei mit Bruchstücken von Dachplatten übersät gewesen." Die Kaffeekanne auf dem Tisch ist unversehrt, der Deckel hat sich aber einmal in der Luft gedreht und lag falsch herum in der Kanne.
Größerer Bruder blickt auf brennende Stadt
Michaels Bruder Kurt, der damals zehn Jahre alt war, klettert noch heimlich auf den Dachboden, die Dachziegel waren weg. Unter ihm liegt das brennende Ulm im Nebel. "Das muss ein gewaltiger Eindruck gewesen sein." Zeitzeugen erzählen später, dass der Feuerschein der etwa 2.000 Brände in dieser Nacht über 100 Kilometer weit zu sehen gewesen sei.
Mutter und ihre fünf Söhne überleben Bombardierung
Mutter und Kinder haben die Bombennacht überlebt - und überstehen auch die Nachkriegszeit. Die verwitwete Mutter hamstert Lebensmittel auf der Alb, übersetzt Texte für amerikanische Soldaten und arbeitet als Lehrerin.
Er sei damals nur Haut und Knochen gewesen, sagt Michael Füchtner, der spätere Kinderarzt. Und spricht mit großer Dankbarkeit über die Menschen, die der Witwe und den fünf vaterlosen Jungen geholfen haben. Die Kinderkrankenschwester Margarete Ihle etwa, die drei Jahre lang ohne Lohn bei der Erziehung der Kinder geholfen habe. "Sie war wie eine zweite Mutter für mich", berichtet Füchtner und wischt sich die Augen.
Zweites Mal in Lebensgefahr: Fast von Mauer erschlagen
Das Leben in den Ruinen der zerstörten Stadt bleibt gefährlich. So werden Michael und seine Mutter beim Gang in die Ulmer Innenstadt fast von einer freistehenden Wand eines ausgebrannten Hauses erschlagen. "Eine Frau hat geschrien wie am Spieß, sie hat gesehen, dass sich die Wand langsam neigte. Meine Mutter hat meine Hand genommen und ist mit mir losgeflitzt. Und hinter uns brach die Wand zusammen. Das war das zweite Mal, dass wir Glück gehabt haben."
Für das Glück, als kleines Kind zweimal überlebt zu haben, will sich der 82-Jährige bedanken. Indem er mitsingt, beim Brahms-Requiem am 17. Dezember in der Ulmer Pauluskirche. "Es ist mir ein Anliegen. Es ist sehr emotional."
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