In der Pandemie sind viele alte Menschen einsam geworden. In Ulm ziehen Mediziner jetzt Bilanz. Professor Michael Denkinger erzählt, welche Maßnahmen im Nachhinein eher geschadet haben.
Besonders in den Alten- und Pflegeheimen sind die Menschen im Lockdown einsam geworden. Mit etwas Abstand zum Höhepunkt der Corona-Pandemie diskutieren Medizinerinnen und Mediziner bei der Ulmer Tagung für Altersfragen am Samstag die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen. Professor Michael Denkinger ist Vorsitzender des Geriatrischen Zentrums Ulm/Alb-Donau. Im Interview erklärt er, welche Lehren wir aus der Pandemie ziehen können.
SWR Aktuell: Wie sind die alten Menschen, besonders in Alten- und Pflegeheimen, aus Ihrer Sicht durch die Pandemie gekommen?
Professor Michael Denkinger: Man muss ganz eindeutig sagen: Es ist nicht gut gewesen, wie die Leute durch die Pandemie kamen. Es gab sehr lange Lockdowns, es gab sehr viel Isolation, Menschen haben ihre Angehörigen nicht gesehen. Und wenn man weiß: Die übliche Verweildauer in einem Pflegeheim ist etwa ein halbes Jahr bis maximal drei Jahre - dann kann es natürlich sein, dass manche da sehr einsam gestorben sind und niemanden mehr gesehen haben. So etwas ist natürlich sehr schrecklich und das müssen wir in Zukunft vermeiden.
SWR Aktuell: Wie bewerten Sie die Schutzmaßnahmen? Ist es vielleicht ein akzeptables Risiko, sich anzustecken, aber dafür nicht einsam zu sein?
Denkinger: Genau das möchten wir am Samstag diskutieren. Deswegen haben wir einen Epidemiologen dabei, das sind Leute, die schauen, wie entwickelt sich die Erkrankung in einer ganzen Bevölkerungsschicht oder im ganzen Land. Wir haben eine Virologin eingeladen, in dem Fall Sandra Ciesek, die ja auch einen Podcast betreibt. Dann haben wir einen niedergelassenen Allgemeinarzt und wir haben einen Krankenhaus-Arzt. Die haben natürlich alle völlig unterschiedliche Sichtweisen. Ich glaube, was alle eint ist, dass sie genau da eine bessere Triage hinbekommen möchten. Man muss noch eines dazu sagen: Das hängt natürlich davon ab, was für ein Virus und welche Sterblichkeit wir in einer zukünftigen Pandemie haben. Wenn wir jetzt zurückblicken: Zu dem Zeitpunkt waren die Maßnahmen verständlich, aber rückblickend denke ich, dass man vielleicht zu harsch und zu extrem reagiert hat.
SWR Aktuell: Sind wir schon so weit, Lehren aus der vergangenen Pandemie zu ziehen?
Denkinger: Ich denke, man kann Lehren ziehen. Ich glaube, man muss sehr stark von der Fallsterblichkeit abhängig machen, wie man weiter vorgeht. Man muss es davon abhängig machen, wie schnell man eine Impfung bekommt und wie gut diese Impfung wirklich wirkt. Da war man am Anfang auch etwas euphorischer, hat dann aber doch nicht dieses Riesenergebnis gehabt - man musste zumindest oft nachimpfen. Es hat sehr viele Einflussfaktoren. Aber ich glaube dadurch, dass wir jetzt gesehen haben, was diese verschiedenen Parameter machen, kann man schon Modelle bauen und die nächste Pandemie besser steuern, die hoffentlich noch ganze lange auf sich warten lässt.