Baden-Württemberg muss mit einer deutlich stärkeren Erwärmung rechnen als bisher gedacht. Dürren, Starkregen und Hochwasser werden wahrscheinlicher.
Der Klimawandel beschert Baden-Württemberg einen noch höheren Temperaturanstieg als bisher befürchtet: Bis 2040 soll es um drei Grad wärmer sein als zu Beginn des Industriezeitalters im Jahr 1881. Das geht aus einer neuen Berechnung des Klimasachverständigenrats Baden-Württemberg hervor, die dem SWR exklusiv vorliegt. Mit einem Plus von 3 Grad hatte die Landesregierung eigentlich erst im Jahr 2100 gerechnet.
Die Vorsitzende des Sachverständigenrats, Maike Schmidt, sagte dem SWR: "Wir wollen mit dieser Analyse niemandem Angst machen, aber wir müssen einfach den Realitäten ins Auge sehen." Baden-Württemberg sei vom Klimawandel aber stärker betroffen als andere Regionen. Die grün-schwarze Landesregierung müsse den Klimaschutz, aber auch Klima-Anpassungsmaßnahmen wie Hochwasserschutz viel stärker ins Zentrum ihrer Politik stellen. Das Thema Klimaanpassung sei bislang von der Landesregierung vernachlässigt worden, kritisierte sie.
Weniger Schnee im Winter, große Hitze im Sommer
In der Analyse des Expertenrats heißt es: "Durch den regionalen Klimawandel ändert sich die Lufttemperatur in Baden-Württemberg deutlich stärker als im globalen Durchschnitt. So ist zukünftig mit deutlich höheren Lufttemperaturwerten im gesamten Jahresverlauf zu rechnen. Dies führt zur eingeschränkten Entwicklung von Schneedecken im Winter, zur Verlängerung der Vegetationsperioden in Frühjahr und Herbst sowie zu deutlich mehr und intensiverer Hitzebelastung im Sommer."
Expertin warnt vor deutlich mehr Unwettern und Dürren
Schmidt forderte die Landesregierung auf, ihre vorbeugenden Maßnahmen dringend an die neue Prognose anzupassen. "Wir erwarten durch diese höheren Temperaturen ein deutlich häufigeres Auftreten von Extremereignissen." Die Expertin vom Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung (ZSW) in Stuttgart rät der Politik sogar, womöglich auf einen dauerhaften Krisenmodus umzusteigen, um auf häufigere Unwetter oder Dürreperioden vorbereitet zu sein. "Wir brauchen hier eine Langfristplanung, die orientiert ist an einem Worst-Case-Szenario, damit wir überhaupt in der Lage sind uns auf das einzustellen, was durch diese dramatische Veränderung der Lufttemperatur auf uns zukommt." Die bisherige Planung der Landesregierung von 2015 reiche bei weitem nicht aus. "Wir brauchen sehr viel weitreichendere Maßnahmen, als die in der bisher bestehenden Klimawandel-Anpassungsstrategie des Landes Baden-Württemberg enthalten sind." Das Umweltministerium will nach den Worten einer Sprecherin demnächst eine neue Strategie vorlegen.
Schmidt appellierte an die Regierung, sich bei den Anpassungsmaßnahmen gut mit Bund und Kommunen abzustimmen. Es brauche mehr Investitionen in Trinkwasserversorgung, aber auch in klimaresistente Forst- und Landwirtschaft. Baden-Württemberg müsse sich vor Trockenheit und Dürre in unbekanntem Ausmaß schützen. "Die wichtigsten Handlungsfelder sind hier Wald und Forstwirtschaft, Landwirtschaft, Boden, Naturschutz und Biodiversität, Wasserhaushalt, Tourismus, Gesundheit, Stadt und Raumplanung, Energiewirtschaft, aber auch die Wirtschaft generell."
Trinkwasser in Gefahr
Sie warnte auch davor, dass die Trinkwasserversorgung in weiten Teilen Baden-Württembergs wegen der Dürren gefährdet werden könnte. "Solche Dürreperioden führen auch dazu, dass es eine verstärkte Wassernachfrage für Bewässerung in der Landwirtschaft gibt, damit hier die Ernten nicht ganz verloren gehen." Sie forderte die Landesregierung auf, Maßnahmen zum "Regenwassermanagement" zu ergreifen. So könne man mit Starkregen besser umgehen, aber auch Regenwasser für die Bewässerung nutzbar machen.
Kretschmann: BW kann Klimawandel nicht allein schaffen
Im Alleingang könnte das Land das Problem des Klimawandels nicht bewältigen, sagte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Der Kampf gegen den Klimawandel könne nur global erfolgreich sein, betonte er - auch wenn die Temperaturen in Baden-Württemberg schneller stiegen als im globalen Durchschnitt. "Wir können nicht sagen: 'Holla, bei uns geht's schneller hoch und wir müssen mehr tun.' Das ändert das Problem nicht", sagte Kretschmann. "Worauf wir uns einstellen müssen, ist die Anpassung an den Klimawandel - und das machen wir", so der Ministerpräsident. Alle Ministerien seien aufgerufen, entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Noch im Sommer solle die Fortschreibung der Klimaanpassungsstrategie von 2015 verabschiedet werden.
Kritik von Fridays for Future an Kretschmann
Die Klimaaktivistinnen und -aktivisten von Fridays for Future Baden-Württemberg nannten die Berechnung des Klimasachverständigenrats schockierend. "Wir müssen uns auf Wasserknappheit, auf Dürren und auf Hochwasser einstellen", erklärten sie auf Anfrage des SWR. Die dramatischen Folgen ließen sich noch verhindern, indem 1,5 Grad-konforme Politik gemacht würde, wie es der
Sachverständigenrat fordere. Gleichzeitig kritisierte die Bewegung Kretschmanns Aussagen zum Bericht des Sachverständigenrats scharf: "Die Klimapolitik in Baden-Württemberg ist durchaus entscheidend. Tatsächlich ist unsere Landespolitik momentan alles andere als ein Vorreiter beim Klimaschutz. Baden-Württemberg ist der Bremser."
Grüne wollen "Weckruf der Experten" ernst nehmen
Die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg nehmen das Ergebnis der Studie laut dem Fraktionsvorsitzenden Andreas Schwarz sehr ernst und wollen "mit passgenauen Lösungen" reagieren. "Wir haben noch die Chance, den Anstieg der Lufttemperatur zu bremsen, um Baden-Württemberg auch für zukünftige Generationen als einen starken Wirtschaftsstandort und ein lebenswertes Land zu erhalten", sagte Schwarz dem SWR. Jeder Euro, der jetzt investiert werde, spare vier Euro an Folgekosten in der Zukunft ein. "Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, der Stärkung umweltfreundlicher Verkehrsträger und der klaren Fokussierung auf eine klimaneutrale Wirtschaft haben wir bereits die notwendigen Schritte in die Wege gleitet", so Schwarz. Man sehe die Studie als Alarm an alle Akteure. Dass es zuletzt immer heißer wurde, beruhe auf dem Versagen der Klimapolitik der Achtziger- und Neunzigerjahre und dem Hände-in-den-Schoß-legen der Nullerjahre, so Schwarz weiter.
CDU dringt auf neue Prioritäten
Bei dem CDU-Umweltexperten Raimund Haser fallen die Forderungen nach mehr Maßnahmen zur Klimaanpassung auf fruchtbaren Boden. Die Landesregierung aus Grünen und CDU müsse andere Prioritäten setzen, um sich auf den Klimawandel einzustellen. "Wir diskutieren sehr viel darüber, wie viel ein Radweg in Baden-Württemberg am internationalen Klima ändern kann", sagte Haser dem SWR. Über Trinkwasser, Deiche, Rückhaltebecken und den Ausbau des Rheins werde zu wenig gesprochen. "Mein politischer Wunsch wäre in der Tat, dass wir, nachdem wir jetzt wirklich Jahre über Klimaschutz diskutiert haben, uns um das kümmern, was wir wirklich als Land auch tun können."
Warum überschreitet BW das Pariser 1,5-Grad-Ziel so stark?
Im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 heißt es, dass der weltweite Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden soll. Die baden-württembergische Klimasachverständige Schmidt erklärte, es sei immer klar gewesen, dass auf den Landmassen der Anstieg höher sein werde und die Ozeane das wieder ausgleichen würden. In Europa sei die Erwärmung besonders stark. Baden-Württemberg sei davon erheblich betroffen. "Wir hatten im Jahr 2022 in Baden-Württemberg eine mittlere Lufttemperatur von 10,6 Grad und damit das wärmste Jahr im Zeitraum der Aufzeichnung von 1881 bis 2022." In den vergangenen 40 Jahren sei die Temperatur enorm gestiegen - um 1,6 Grad Celsius.