Der Brandschutz von S21 wird seit Jahren kritisiert. Jetzt gibt es neue Vorwürfe. Denn in Züge passen heute mehr Menschen als zur Zeit der S21-Planung. Das hat Folgen für den Ernstfall.
Das Eisenbahnbundesamt (EBA) kommt seinen eigenen Regularien und Anforderungen bei Stuttgart 21 nicht nach. Das werfen Wissenschaftler vom Faktencheckportal WikiReal und der Stuttgart-21-kritischen Gruppierung Ingenieure22 dem EBA vor. Der Kern des Ganzen: Inzwischen sind längere Züge mit viel mehr Fahrgästen für Stuttgart 21 vorgesehen als ursprünglich geplant. Für einen Brandfall im Tunnel bedeutet das: Es müssen auch viel mehr Menschen gerettet werden. Das Brandschutzkonzept sei dahingehend von Anfang an nicht ausreichend gewesen.
Aus Sicht der Kritiker nimmt sich das EBA diesen Anforderungen nicht ausreichend an. Viele Fragen seien ungeklärt: Warum gehören Personenzahlen nicht zum Brandschutzkonzept? Warum hält sich die Bahn bei diesen Fragen bedeckt? Warum sind die Bestimmungen beispielsweise in der Schweiz strenger? Und wird jemals ein Zug durch Stuttgart 21 fahren?
Kritik: "Es reicht nicht, nur die Mindestanforderungen zu erfüllen"
Der Physiker und Analyst Christoph Engelhardt vom Faktencheckportal WikiReal kritisiert seit Jahren schon den Brandschutz. Immer wieder berechnet er Evakuierungszeiten und Brandszenarien für die Stuttgart-21-Tunnel. Nun bringen er und seine Mitstreiter von den Ingenieuren22 neue Argumente vor: Denn zum einen werden die Tunnel von Stuttgart 21 enger als ursprünglich geplant. Der Platz in den Tunneln ist also sehr begrenzt. Zum anderen müssen im Brandfall aber deutlich mehr Menschen gerettet werden als im Planfeststellungsbeschluss mal vorgesehen war.
Bei Stuttgart 21 halte man sich exakt an die Minimalanforderungen, die das EBA beim Tunnelbau vorgibt, kritisiert Engelhardt: "Aber die Tunnelrichtlinie gibt nicht nur eine Vorgabe für eine Mindestbreite der Rettungswege und für einen Höchstabstand der Rettungsstollen. Sondern sie fordert, dass eine Selbstrettung gewährleistet sein muss." Eine Selbstrettung, das kann im Ernstfall auch das Evakuieren eines brennenden Zuges in einem Tunnel sein.
"Das ist eine sehr starke Forderung, die auch erfüllt sein muss", so Engelhardt. Und zwar schon im Planfeststellungsbeschluss, nicht erst zur Inbetriebnahme. Die Kritik des Analysten: "Es sind eben Mindestanforderungen, und keine Normen, die eingehalten werden müssen. Wenn die Selbstrettung gefährdet ist, muss eben zum Beispiel der Fluchtweg breiter sein und der Abstand zu den Fluchtstollen geringer."
Über eine Stunde zur Evakuierung eines vollbesetzten Zuges
Seit Stuttgart 21 geplant und konzipiert wurde, hat sich aber viel geändert. Die Bahn nimmt in der Verkehrspolitik eine immer bedeutendere Rolle ein. Immer mehr Menschen fahren mit der Bahn - und es sollen noch mehr werden. Sprich: Es werden längere Züge gebraucht, die mehr Menschen befördern können.
Vorerst wohl nur 14 statt 80 Züge Auslieferung neuer Regionalzüge an BW verzögert sich
Mit 80 neuen Doppelstockzügen zum Start von Stuttgart 21 im Dezember 2025 hatte das Land geplant. Doch schon jetzt zeichnet sich ab: Das wird nur eingeschränkt klappen.
In den Tunneln spielt aber laut der Kritiker die Personenzahl eine entscheidende Rolle. Das Hauptproblem: Im Planfeststellungsbeschluss von Stuttgart 21 ist man von Zügen mit maximal 1.757 Fahrgästen ausgegangen. Das Land Baden-Württemberg hat aber vor zwei Jahren neue Doppelstockzüge bestellt mit deutlich höheren Kapazitäten. Vier Züge davon aneinander gekuppelt ergeben eine Kapazität von 3.681 Personen. Wenn ein Zug dieser Länge in einem Tunnel stehen bleibt, würde die Evakuierung durch die hohe Personenzahl deutlich länger dauern - 79 Minuten. Viel zu lange im Brandfall, so die Kritiker. Zum Vergleich: Der längste ICE, der sogenannte ICE4 XXL, hat 918 Sitzplätze.
Auf SWR-Anfrage erklärt die Bahn, dass die Tunnel von Stuttgart 21 alle strengen Auflagen und Sicherheitsbestimmungen erfüllen würden. Die Bahn bestätigt aber auch, dass die Art der Fahrzeuge kein Bestandteil des Brandschutzkonzepts ist: "Das der bestandskräftigen Planfeststellung zugrunde liegende Brandschutzkonzept des künftigen Stuttgarter Hauptbahnhofs ist von der Art der eingesetzten Züge unabhängig." Ein Skandal, findet Christoph Engelhardt: "Damit sagt die Bahn, es wäre unerheblich, ob beispielsweise 10 oder 3.681 Personen zu evakuieren sind." Und vor allem hätte das Eisenbahnbundesamt längst einschreiten müssen.
Eisenbahnbundesamt: "Zur Inbetriebnahme wird alles geprüft"
Das Eisenbahnbundesamt, das die gesetzlichen Vorgaben bei Bauprojekten überprüft und am Ende auch die Betriebsgenehmigung erteilt, bestätigt das gegenüber dem SWR ebenfalls: "Zeit- und Leistungsvorgaben für die Evakuierung eines Zuges oder für das Erreichen des sicheren Bereiches sind in den Richtlinien zu Eisenbahntunneln nicht enthalten." Laut der Kritiker widerspricht sich das EBA damit selbst. Denn die Selbstrettung muss ja gewährleistet sein - übrigens für alle Menschen. Im Ernstfall müssen sich auch Menschen mit Einschränkungen und Eltern mit Kindern rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Wie soll die Selbstrettung gewährleistet sein, wenn diese Faktoren nicht berücksichtigt werden?
Das EBA hingegen bekräftigt: Dem Planfeststellungsbeschluss zu Stuttgart 21 seien jeweils die aktuellen Vorgaben zum Tunnelbau und zum Brandschutz zugrunde gelegt worden. Es ergänzt aber auch, dass die Rettungskonzepte während des Baus weiterentwickelt werden müssen, bis sie vor der Inbetriebnahme geprüft werden.
Daraus könnte man interpretieren, dass sich das EBA durchaus vorbehält, eine Betriebsgenehmigung nicht auszusprechen, wenn sie bei Fertigstellung von Stuttgart 21 den Brandschutz für ungenügend hält. Damit könnte ein ähnliches Szenario wie beim Berliner Flughafen BER eintreten. Der hat wegen Mängel am Brandschutz erst 10 Jahre später eröffnen können.
Angebrachte Kritik oder "Panikmache"?
Auf SWR-Anfrage erklärt die Bahn, die Kritik der Ingenieure und Wissenschaftler sei schlicht "Panikmache". Auf eine ausführlichere Diskussion dazu wolle man sich nicht einlassen. Doch was sind die Einwände der Kritiker? Auf Nachfrage bei verschiedenen Experten stellt sich heraus: Eine Einordnung ist nicht so einfach. Zum Beispiel, wenn es um die rechtlichen Regularien geht.
Urs Kramer ist Professor und Jurist an der Universität Passau. Mit Bahn-Themen beschäftigt er sich immer wieder, er hat auch schon Rechtsgutachten zu Stuttgart 21 angefertigt. Beim Thema Brandschutz ist eine juristische Einordnung schwierig, sagt er: "Das ist ein kompliziertes und komplexes Tunnelsystem. Das ist nicht Standard, das gibt es so noch nicht woanders. Insofern ist es schwierig, das einzuschätzen."
Hans Leister hingegen erklärt, dass ein Blick dorthin helfen kann, wo man sich seit Jahren mit Tunnelsystemen beschäftigt. Hans Leister hat früher selbst bei der Deutschen Bahn gearbeitet, berät bis heute Eisenbahnunternehmen und beschäftigt sich mit der Eisenbahn von Morgen. In seiner Arbeit hat er sich unter anderem mit dem Brandschutz des Schweizer Gotthard-Basistunnels beschäftigt - einem 57 Kilometer langem Eisenbahntunnel durch die zentralen Schweizer Alpen. Und da gibt es eindeutig Unterschiede: "Beim Gotthard-Basis-Tunnel sieht man zum Beispiel, dass es dort alle 325 Meter einen Querstollen als Fluchtweg gibt." Das ist deutlich häufiger als bei den 500-Meter-Abständen in Stuttgart.
Unterschiede zum Schweizer Gotthard-Tunnel
"Außerdem ist der Fluchtweg leicht erhöht. Im Grunde hat der gesamte Tunnel einen Bahnsteig, dass die Leute bequem aussteigen und zum Fluchtstollen gelangen können", erklärt Leister weiter. Diese Vorgaben sind nicht einfach so entstanden. Denn auch in der Schweiz gab es lange Diskussionen und einen Streit um den Brandschutz des Gotthard-Tunnels, bestätigen Schweizer Eisenbahnmitarbeiter dem SWR. Daher wurde ein engerer Abstand der Querstollen gewählt und der Fluchtweg als Bahnsteig erhöht, damit auch Menschen mit Beeinträchtigungen gut aussteigen können.
In Stuttgart ist der Fluchtweg ebenerdig zum Gleisbett, die Fahrgäste müssen also deutlich tiefer aussteigen. Zu Deutsch: Man muss etwa einen Meter hinunterspringen. Insgesamt geht man im Gotthard-Basistunnel davon aus, dass die gesamten Fahrgäste eines Zuges innerhalb von zwanzig Minuten in den Nachbarstollen evakuiert werden können.
Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten mit Stuttgart 21. Sowohl in Stuttgart wie auch im Gotthard-Basis-Tunnel führen die Fluchtstollen in den Nachbartunnel. Über den werde dann die Evakuierung durchgeführt, erklärt Hans Leister. Ein Evakuierungssystem, das in Stuttgart scharf von den Fachleuten kritisiert wird.
Tunnelrichtlinien wurden in den letzten 25 Jahren verschärft
"Bis zu einem gewissen Grad muss man die Kirche auch im Dorf lassen", erklärt Hans Leister. In den 2000er-Jahren wurden die Richtlinien für Tunnelbauten enorm verschärft. "Dann dürften Sie durch manche Tunnel heute gar nicht mehr fahren. Dann müssten Sie den Pragtunnel (ein 680 Meter langer Eisenbahntunnel bei Stuttgart, Anm. d. Red.) sofort sperren." Andere Netze wie die Londoner U-Bahn dürften dann nicht mehr betrieben werden.
Brandschutz von S21: Eine Grundskepsis bleibt
Dennoch sagen Experten und Wissenschaftler wie Hans Leister und Urs Kramer, dass man sich der Kritik der Ingenieure, Phsyiker und Analysten annehmen müsse, um sie zu diskutieren. Ein Abblocken der Bahn, wie sie es seit Jahren bei dem Thema tut, sei falsch. Denn ein paar Kritikpunkte sind nicht von der Hand zu weisen - wie einige Vorfälle in den vergangenen Jahren zeigen, zum Beispiel der Zugbrand bei Montabaur in Rheinland-Pfalz. Ein ICE hat am 12. Oktober 2018 angefangen zu brennen. Innerhalb von sieben Minuten stand der Zug laut der Kritiker in Vollbrand. In Montabaur konnte der Zug auf freier Strecke anhalten und alle Fahrgäste konnten rechtzeitig evakuiert werden.
In Deutschland gilt, dass ein Zug im Ernstfall nicht im Tunnel, sondern auf freier Strecke zum Stehen kommen soll. Dass das in Stuttgart funktionieren würde, bezweifeln die Ingenieure 22. Im sogenannten Fildertunnel, dem Tunnel vom neuen Tiefbahnhof zum Flughafen, würde das bedeuten, dass ein Zug in Fahrtrichtung Flughafen brennend noch funktionsfähig genug ist, den Berg auf die Fildern hinaufzufahren, und das rechtzeitig, bis der Zug in Vollbrand steht.
Ein anderes Beispiel ist erneut der Gotthard-Basistunnel. Dort sind nur Sitzplätze in den Zügen zugelassen. Personen, die im Zug stehen, müssen vor dem Tunnel aussteigen, wie Schweizer Medien mehrfach berichteten. Im Gotthard-Basistunnel fahren primär Fernverkehrszüge, Stehplätze sind daher eher unüblich. In Stuttgart fahren hingegen deutlich mehr Nahverkehrszüge. Stehplätze zu den Hauptverkehrszeiten sind notwendig.
Wird jemals ein Zug durch Stuttgart 21 fahren?
Christoph Engelhardt vom Faktencheckportal WikiReal sagt, eigentlich dürfe niemals ein Zug bei Stuttgart 21 fahren. Der Verkehrsexperte Hans Leister hingegen merkt an, dass man abwarten müsse, welche Bestimmungen noch ergänzt werden. Ob es noch Regularien geben wird, wie voll die Züge in den Tunneln sein dürfen - ob es eine Obergrenze der Personenzahl geben wird wie im Gotthard-Basis-Tunnel. Eine Obergrenze, die aber die Kapazität von Stuttgart 21 erheblich einschränken würde.
Eines ist klar: Wenn Stuttgart 21 fertig gestellt ist, wird auch der Brandschutz mit den örtlichen Behörden und der Feuerwehr geprobt und geprüft. Und dann hätte auch das Eisenbahnbundesamt die Möglichkeit, eine Betriebsgenehmigung zu verweigern, wenn der Brandschutz nicht ausreichend sein sollte.
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