Ein Ende der Gewalt zwischen zwei brutalen Gruppen im Raum Stuttgart ist nicht in Sicht - trotz erster Urteile und weiterer Anklagen. Laut LKA ist Kriminalität für sie ein Lifestyle.
Fünf junge Männer aus dem Raum Ludwigsburg und Esslingen müssen sich seit Donnerstag vor dem Landgericht in Stuttgart verantworten. Ihnen wird unter anderem versuchter Totschlag und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Es ist der zweite Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht nach dem Wurf einer Handgranate im Juni auf einem Friedhof in Altbach (Kreis Esslingen). Der Prozessauftakt fand unter starken Sicherheitsvorkehrungen statt. Es waren etwa 50 Angehörige und Freunde der Angeklagten erschienen.
Die Ermittlerinnen und Ermittler hoffen, dass Verfahren wie dieses die gewaltsamen Auseinandersetzungen zweier Gruppierungen aufklären können, die sich seit über einem Jahr mit teils schweren Waffen bekämpfen. Dabei fallen im Raum Stuttgart immer wieder Schüsse.
Angeklagte sollen Handgranatenwerfer aus Taxi gezerrt haben
Die fünf Angeklagten sind zwischen 19 und 21 Jahren alt. Sie sollen nach der Explosion der Handgranate hinter dem 23-Jährigen hergestürmt sein, der die Granate gegen einen Baum geworfen hatte, hieß es bei der Anklageverlesung beim Prozessauftakt. Die Staatsanwaltschaft verlas dabei detailliert, wie brutal die fünf Angeklagten auf den 23-Jährigen losgegangen sein sollen. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie ihn so stark geschlagen und getreten haben, dass Blut bis auf die Hüfte eines Angreifers spritzte. Auch sollen sie Rettungssanitäter zunächst davon abgehalten haben, den lebensbedrohlich am Kopf Verletzten zu retten. In diesem Zusammenhang wird gegen 20 weitere Personen ermittelt. Sie sollen ebenfalls die Rettungskräfte und Polizei behindert haben, so die Staatsanwaltschaft Stuttgart. Gegen die Tatverdächtigen soll ein weiteres - damit drittes - Gerichtsverfahren eröffnet werden.
Wegen versuchten mehrfachen Mordes wird bereits seit einer Woche gegen den 23-jährigen Handgranatenwerfer vor dem Landgericht Stuttgart verhandelt, allerdings in einem separaten Verfahren. Zu Beginn hatte er die Vorwürfe bereits zugegeben.
Rivalisierende Gruppierungen Stuttgart-Möhringen: 29-Jähriger mit Messer schwer verletzt
Am Dienstag wurde in Stuttgart ein Mann mit einem Messer schwer verletzt. Warum ist unklar - das Opfer soll aber einer von zwei rivalisierenden Gruppen im Großraum Stuttgart angehören.
LKA: Kriminalität als Lebensentwurf, der der eigenen Inszenierung dient
Im Vorfeld der beiden Prozesse hatte die Polizei versucht zu klären, was hinter der Eskalation der Gewalt steht. Dabei sei auffällig, welche Rolle Kriminalität für die vorwiegend jungen Männer mit Einwanderungsgeschichte in beiden Gruppierungen spiele, sagt das Landeskriminalamt (LKA). Laut LKA-Chef Andreas Stenger sind die etwa 500 Mitglieder der beiden Gruppierungen eng verbunden mit einem Milieu, das der Gangster-Rap-Szene nahesteht.
Für dieses Milieu sei Kriminalität ein Lebensentwurf. "Crime as a lifestyle", nennt es Stenger. Er geht auf die Liedtexte ein, die wie eine Programmatik klingen: "Wenn wir diesen Rap-Songs zuhören, dann sind die Botschaften schon klar, wenn die sagen: Wir sind kriminell, aber es geht uns nicht um Gewinn." Aber worum geht es dann? Laut Stenger dient die Kriminalität nicht in erster Linie dem Profit aus den Straftaten, sondern der Inszenierung, vor allem in den sozialen Netzwerken, aber auch auf der Straße.
Verherrlichen Rap-Songs die Gewalt auf der Straße in Esslingen?
Nach Erkenntnissen der Ermittlerinnen und Ermittler stehen sich zwei Gruppierungen gegenüber. Die eine mit Schwerpunkt im Kreis Esslingen, die andere mit Schwerpunkt im Kreis Göppingen mit Verbindungen nach Stuttgart-Zuffenhausen. Nach SWR-Recherchen gibt es Überschneidungen der Esslinger Gruppierung zu dem Rapper "ESKA". Junge Männer, die wegen einer Schießerei zwischen den Gruppierungen in Esslingen-Mettingen verurteilt worden waren, sind demnach in einem Musikvideo des Rappers zu sehen.
Texte aus den Songs des Musikers lesen sich wie eine Erklärung zu den mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzungen der Gruppierungen.
Darin geht es auch darum, warum die Tatverdächtigen in der Untersuchungshaft nicht mit den Ermittlern sprechen - auch wenn sie selbst Opfer von Angriffen durch die verfeindete Gruppierung geworden sind.
Erst im Internet posen, dann schießen
Beide Gruppen definieren sich durch die Gegend, in der sie leben, so die Polizei. Ermittler sprechen von regelrechten Gebietsansprüchen. Wer jeweils das Revier der anderen Gruppierung betrete, provoziere gezielt. Als Reaktion gebe es seit fast zwei Jahren Gewalt - Brandstiftung, Messerstiche, Schüsse. Das erste Mal gab es in Esslingen-Mettingen im September 2022 eine Schießerei und zuletzt fielen im Oktober in Schorndorf Schüsse. Messerstiche gab es erst vor wenigen Tagen.
Doch schon bevor der erste Schuss abgefeuert worden war, hatten Beteiligte beider Gruppen mit geladenen Waffen in sozialen Netzwerken posiert. Eine solche Waffe war bei Kontrollen der Polizei vor einer Bar in der Stuttgarter Innenstadt beschlagnahmt worden. Immer wieder findet die Polizei bei Kontrollen illegale Waffen, auch eine weitere Handgranate wurde kürzlich entdeckt. Deshalb halten Ermittler den Konflikt für sehr gefährlich.
Ist die Gewaltspirale zu stoppen?
SWR-Recherchen zeigen, dass der ersten Schießerei ein Streit in den sozialen Medien vorausgegangen war. Dabei soll die eine Gruppierung die andere mit erniedrigenden Aufnahmen provoziert haben. Auch nach Schüssen auf der Straße gehen Auseinandersetzungen im Internet weiter. Posts fallen dabei oft sehr impulsiv und aggressiv aus. Ermittler gehen davon aus, dass die Bereitschaft zur Gewalt auch aus solchen online ausgetragenen Konflikten geschürt wird.
Die Kombination von Aggressivität in sozialen Medien und auf offener Straße macht es den Ermittlerinnen und Ermittlern schwer, weitere Eskalationen zu verhindern. Die Taten entstehen demnach aus verletztem Ehrgefühl und falsch verstandener Männlichkeit. Impulsives Verhalten erschwere es, zu erkennen, wo die Gewalt als nächstes ausbrechen wird. Zudem ziehe die Inszenierung über soziale Medien immer wieder neue Menschen zu den beiden Gruppierungen hin. Es sollen auch schon gezielt junge Menschen über direkte Nachrichten rekrutiert worden sein.
Tote in Stockholm: LKA tauscht sich mit schwedischen Ermittlern aus
Die Polizei sieht die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Gruppierungen im Raum Stuttgart als besonders gefährlich an. Obwohl es in ganz Deutschland ähnliche Milieus wie im Umfeld der Landeshauptstadt gebe, komme es anderswo nicht zu vergleichbaren lang anhaltenden und schwer zu stoppenden gewaltsamen Konflikten.
Manche Ermittler vergleichen die Situation im Raum Stuttgart mit der im Raum Stockholm. Dort haben Auseinandersetzungen zwischen jungen Männern bereits zahlreiche Tote gefordert. Das baden-württembergische LKA tauscht sich deshalb mit schwedischen Ermittlerinnen und Ermittlern aus.
Um die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Region Stuttgart ging es am Donnerstag auch in der SWR-TV-Sendung "Zur Sache Baden-Württemberg":
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