Die Corona-Pandemie war geprägt von Maßnahmen und Einschränkungen. Der medizinische Vorstand vom Klinikum Stuttgart glaubt, dass die Einschränkungen sinnvoll waren, aber zum Teil zu lange galten.
Jan Steffen Jürgensen ist medizinischer Vorstand und Vorstandsvorsitzender am Klinikum Stuttgart. In der Corona-Pandemie stand er mit seinen Kolleginnen und Kollegen an vorderster Front. In einer Zeit, in der die Krankenhäuser mit Covid-Patienten überfüllt waren. Im Interview mit SWR Aktuell erzählt Jürgensen, wie er aus heutiger Sicht die Maßnahmen bewertet und spricht über die aktuelle Lage in den Kliniken.
SWR Aktuell: Ein zentrales Mittel zum Schutz gegen Corona war die Maskenpflicht in Innenräumen. Rückblickend betrachtet: War es sinnvoll, diese so lange beizubehalten?
Jan Steffen Jürgensen: Es ist ein preiswertes, hocheffektives und zumutbares Mittel. Im Vergleich zu vielen anderen Dingen, die wir gemacht haben, würde ich sagen: Es war eine eher geringe Einschränkung mit hoher Effektivität. Insofern war das schon eine vernünftige Maßnahme.
SWR Aktuell: Wie wäre denn die Pandemie ohne die Maskenpflicht verlaufen?
Jürgensen: Das ist schwer abzuschätzen. Wir haben natürlich aus dem vorhandenen Instrumentenkasten sehr viel genutzt, die Anteile der einzelnen Maßnahmen sind schwer zu beziffern. Aber Maskentragen war eine wichtige Säule zur Eindämmung, ganz klar.
SWR Aktuell: Gerade häufen sich Atemwegserkrankungen. Viele Menschen klagen über Infekte, die früher nicht so schwer verlaufen sind. Rückblickend betrachtet: Wirkt sich das Maskentragen nun negativ aus?
Jürgensen: Da hat sich sicher eine Bugwelle aufgebaut. Es gibt Nachholeffekte, die sich etwa an atypischen saisonalen Häufungen von RSV-Infektionen bei Kindern und Kleinkindern zeigt. Trotzdem war es richtig, diesen Preis zu zahlen. Wir konnten so eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Und das war eine reale Gefahr, wie man im Elsass oder auch Norditalien beobachten konnte.
SWR Aktuell: Gilt das auch für die zeitweise verhängten Ausgangsbeschränkungen
Jürgensen: Diese waren aus rein medizinischer Sicht sinnvoll. Ausgangsbeschränkungen oder auch Kontaktreduktionen sind effektiv. Allerdings war das natürlich ein einschneidender brachialer Schritt. Ich würde sagen, es war allenfalls in der Frühphase der Pandemie gerechtfertigt, als wir mit großen Unbekannten und Unsicherheiten umgehen mussten. Damals war der Anstieg der Fallzahlen exponentiell und das Gesundheitssystem mit Blick auf Schutzausrüstung und Beatmungskapazitäten war nicht gut vorbereitet. Die Beschränkung ist aber möglicherweise zu lang und zu intensiv beibehalten worden.
SWR Aktuell: Und mal angenommen, es gebe eine neue Variante, die die Infektionszahlen wieder steigen lässt: Wäre dann noch mal eine Ausgangssperre angebracht?
Jürgensen: Niemand geht davon aus, dass so etwas nochmals nötig werden könnte. Drei Viertel der Bevölkerung sind geimpft, in den vulnerablen Gruppen über 60 sind es sogar mehr als 90 Prozent, die meisten mit Auffrischungsimpfung. Wir haben fast 40 Millionen erfasste durchgemachte Infektionen plus eine hohe Dunkelziffer. Die Immunitätslage ist also eine ungleich bessere und überhaupt nicht mehr vergleichbar mit den Vorjahren. Wir erwarten auch nicht mehr viele schwere Verläufe.
SWR Aktuell: Was hätte es noch an Instrumenten in der Pandemie gebraucht? Was war gut und richtig, was ist falsch gemacht worden?
Jürgensen: Ich glaube, das frühe Management in der Pandemie war trotz seiner drastischen Einschränkungen in Ordnung angesichts der Unsicherheiten, der unsicheren Prognosen und der hohen Dynamik. Späterer musste man feststellen: Maßnahmen sind nur so gut wie ihre Akzeptanz und Durchsetzbarkeit. Da wird auch ein bisschen mit den Füßen und dem Verhalten abgestimmt. Es bringt auch nichts, Regeln aufzustellen, die nicht einleuchtend oder zu kompliziert sind und von der Bevölkerung nicht angenommen werden. Ich glaube, dass da etwa mit einigen Quarantäne-Regeln, Kontaktbeschränkungen und Ausgangsbeschränkungen vielleicht überzogen wurde.
SWR Aktuell: Was wären heute ihre Empfehlung an die Bundespolitik?
Jürgensen: Auf Rat hören und Realitäten annehmen. Der Ausnahmezustand ist eben ein Ausnahmezustand und keiner, der Alltag werden sollte - insbesondere, wenn sie dem Empfinden und der Erfahrung der Bevölkerung widersprechen. Auch sollten wir uns nicht so monothematisch mit dem Thema Pandemie auseinandersetzen. Wir haben auch andere dringliche Aufgaben - Energiekrise, Finanzierung der Krankenhäuser, Pflegenotstand und aktuell die Stärkung der Kinderheilkunde. Da gibt es Notsituationen, in die wir sehenden Auges auch bundespolitisch geraten sind. Ich würde mir also den Fokus des Gesundheitsministers auch auf andere Themen wünschen.
SWR Aktuell: Wie schätzen Sie denn die Lage in Baden-Württemberg, was die Pandemie betrifft?
Jürgensen: Ich glaube, es ist eine stabile und kontrollierte Situation. In Baden-Württemberg haben wir etwa 120 Menschen in intensivmedizinischer Behandlung wegen Covid. Auch mit der Zahl an Menschen, die mit oder wegen Covid auf Normalstationen in Behandlungen liegt, kommen die Krankenhäuser zurecht. Die Immunitätslage ist gut und stabil, ähnlich wie in ganz Deutschland. Insofern wird nun ja auch von einer Endemie gesprochen. Ich glaube, wir sind aus den großen Ausschlägen und unkontrollierten Wellen heraus. Die Lage in Baden-Württemberg ist, was Covid angeht, unter Kontrolle.