Der inzwischen suspendierte Inspekteur der Polizei soll eine Untergebene sexuell genötigt haben. Nach SWR-Informationen verschickte er schon vor seiner Beförderung Nacktbilder an Kolleginnen.
Es ist empfindlich kalt und schon fast dunkel, als die Bombe platzt. Das baden-württembergische Innenministerium teilt am späten Nachmittag des 23. Novembers 2021 schriftlich mit, dass es schwere Vorwürfe gegen einen führenden Mitarbeiter der Polizei gebe. Es stünden "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung einer Mitarbeiterin des Landespolizeipräsidiums" im Raum, schreibt das Ministerium etwas umständlich. Aber um wen geht es genau? Das lässt das Haus von Innenminister Thomas Strobl (CDU) offen. Schnell sickert durch: Der noch recht neue Inspekteur der Polizei, Andreas R., soll eine jüngere Kommissarin, die auf eine Beförderung hoffte, sexuell genötigt haben. Es ist der Spitzenbeamte, der für eine Wertekampagne der Polizei gegen sexualisierte Gewalt verantwortlich war, über die er in einem SWR-Interview sagte: "Jeder einzelne Fall ist definitiv auch einer zu viel."
Wurden Anzeichen für früheres Fehlverhalten übersehen?
Der Skandal erschüttert seither die Polizei und auch die Politik - vor allem Strobl gerät als früherer Förderer von Andreas R. massiv unter Druck. Die Staatsanwaltschaft ermittelt schnell gegen den suspendierten Polizisten. Sie geht schließlich davon aus, dass die Vorwürfe der Frau stimmen und Andreas R. seine berufliche Stellung bewusst ausgenutzt hat.
An diesem Freitag beginnt nun vor dem Landgericht in Stuttgart der Prozess gegen den Mann, der eine außergewöhnlich steile Karriere bei der Polizei gemacht hatte. Nach dem Absturz des einst mit 47 Jahren jüngsten Inspekteurs in der Geschichte des Landes fragen sich viele bei Opposition, Polizei und Gewerkschaften, ob es bereits vor dessen Kür Anzeichen für mögliches Fehlverhalten gab.
Schon 2018 verschickte Andreas R. Nacktbilder an Polizistinnen
Bekannt ist, dass Andreas R. anderen Polizistinnen pornografische Bilder von sich selbst per WhatsApp geschickt hat. Wie der SWR nun erfuhr, soll er diese Fotos schon vor seiner Berufung zum Inspekteur an mindestens drei Polizistinnen versendet haben - und zwar zwischen 2018 und 2020. Zum ranghöchsten Polizisten war er im November 2020 gekürt worden. Allerdings wurde das Versenden der Bilder erst Mitte Dezember 2021 bekannt, also nach seiner Suspendierung: durch eine anonyme Anzeige.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart bestätigte dem SWR, dass wegen einer anonymen Anzeige ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Andreas R. eröffnet wurde. Es sei dabei um Vorgänge ab dem Jahr 2018 gegangen - damals war Andreas R. noch stellvertretender Landeskriminaldirektor im Innenministerium und ab August 2019 Vize im Landeskriminalamt. Allerdings sei das Ermittlungsverfahren im Oktober 2022 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden. Wie die "Bild" berichtet, soll Andreas R. eingeräumt haben, solche Fotos verschickt zu haben. Die Staatsanwaltschaft konnte demnach nicht nachweisen, dass dies gegen den Willen der Empfängerinnen geschah.
SPD fragt nach Kontrollmechanismen im Innenministerium
Sascha Binder, Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss des Landtags zur Polizei-Affäre, fragt sich, warum Andreas R. vor dessen "beispielloser Turbo-Beförderung" nicht besser durchleuchtet worden sei. "Es ist erschreckend und widerwärtig, dass der Inspekteur der Polizei offenbar über einen Zeitraum von mehreren Jahren und in mehreren Fällen Polizistinnen mit pornografischen Bildern von sich belästigt hat", sagte Binder dem SWR. Trotzdem habe Innenminister Strobl seinen "Liebling" - so Binder - unter allen Umständen auf dem Posten des Inspekteurs haben wollen. "Es stellt sich unweigerlich die Frage, wie alle Kontrollmechanismen im Innenministerium so versagen konnten." Aus dem Ministerium heißt es hingegen immer wieder, es habe bis zum November 2021 keine Zweifel an Andreas R. gegeben, man habe ihn für integer und hochprofessionell gehalten.
Personalgespräch mit Sekt im Innenministerium
An diesem Freitag geht es vor Gericht aber um die Frage, ob Andreas R. die Polizistin, die von ihrer Dienststelle ans Ministerium abgeordnet war, sexuell genötigt hat. Es ist Freitag, der 12. November 2021, um 14:30 Uhr, als die Anwärterin auf den höheren Dienst für ein Personalgespräch in das Büro des Inspekteurs im Innenministerium kommt. Andreas R. erklärt der 34-jährigen Frau, dass Polizeipräsidentin Stefanie Hinz ihn gebeten habe, sie bei ihrem Aufstieg als "Mentor" zu begleiten. Bei dem Gespräch wird Sekt getrunken.
Später kommen noch mehrere Personen dazu, unter anderem Hinz selbst, es werden weiter Sekt und andere alkoholische Getränke getrunken. Die Polizeipräsidentin räumte in diesem Jahr vor dem U-Ausschuss ein, dass sie hätte einschreiten müssen. Gegen 22 Uhr ziehen der Inspekteur, die junge Beamtin und ein weiterer Kollege in eine nahegelegene Kneipe, um weiter zu trinken.
Landgericht muss klären: Was geschah in der Gasse neben der Kneipe?
Die Staatsanwaltschaft geht nach SWR-Informationen davon aus, dass Andreas R. gegen Mitternacht die junge Frau dann dazu bewegt hat, noch einen "Absacker" in einer anderen Bar in Bad Cannstatt zu nehmen. Der Inspekteur soll hier Stammgast und auch schon öfter in weiblicher Begleitung gewesen sein.
Die beiden werden von einer Überwachungskamera gefilmt. Sie trinken weiter und es kommt zum Austausch von Zärtlichkeiten. Ob diese einvernehmlich waren, darüber gibt es zwei Versionen: Die junge Frau fühlte sich nach eigener Aussage bedrängt, der Inspekteur sieht dagegen Einvernehmen. Gegen 3 Uhr nachts gehen die beiden vor die Tür. Die Frau schildert die Situation in der Gasse neben der Kneipe nach SWR-Informationen so, dass der Inspekteur sie genötigt habe, ihn intim zu berühren. Sie habe zwar Ekel empfunden, sich aber wegen möglicher beruflicher Nachteile nicht getraut, sich zu widersetzen. Andreas R. sagt dagegen, sie habe ihn beim Urinieren überrumpelt und intim berührt.
Ist das anschließende Videotelefonat der entscheidende Beweis?
Wenige Tage später kommt es auf Betreiben von Andreas R. zu einem Videotelefonat, das die Beamtin im Homeoffice heimlich mit dem Smartphone akustisch mitschneidet. Darin versucht der Inspekteur nach SWR-Informationen die junge Frau zu überreden, sich mit ihm einzulassen. Demnach versichert er in dem Gespräch mehrfach, dass sie durch den privaten Kontakt auch beruflich nur Vorteile haben werde. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Mitschnitt die Tatmotivation dokumentiert. Zwei Tage später berichtet die junge Frau Polizeipräsidentin Hinz von den Geschehnissen in und vor der Bar und dem Videotelefonat.
Anklage wegen sexueller Belästigung bei Polizei Weitere juristische Niederlage für Polizeiinspekteur in BW
Der Beamte hatte gegen einen heimlichen Mitschnitt einer Polizistin geklagt, die er sexuell belästigt haben soll. Die Generalstaatsanwaltschaft sieht die Beamtin jedoch im Recht.
Der inzwischen suspendierte Inspekteur der Polizei zieht dagegen die Glaubwürdigkeit der Beamtin infrage. Er argumentiert nach Informationen des SWR, die Beamtin habe ihn bewusst und aus verletztem Stolz heraus diffamieren wollen und falsch verdächtigt. Denn er habe ihr gegenüber klargestellt, dass er sich nicht von seiner Frau trennen werde. Das mutmaßliche Opfer bestreitet das und tritt im Prozess als Nebenklägerin auf. Bei einer Verurteilung wegen eines sexuellen Übergriffs droht Andreas R. eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Selbst bei einem Freispruch käme weiteres Ungemach auf den suspendierten Inspekteur zu. Dann würde ein Disziplinverfahren folgen, das damit enden könnte, dass der Beamte aus dem Dienst entfernt wird.
Gewerkschaft der Polizei hat Meldeportal erstellt
Die Gewerkschaft der Polizei appellierte an die Beschäftigten, Vorfälle von sexualisierter Gewalt schnell zu melden. Die GdP habe zum Beispiel im vergangenen Jahr ein Meldeportal online geschaltet, über das Betroffene Geschehnisse anzeigen können, ohne mögliche Konsequenzen innerhalb der Polizei fürchten zu müssen, sagte Landeschef Gundram Lottmann dem SWR. "Nach über einem Jahr hat sich aber noch niemand gemeldet." Das deute zwar darauf hin, dass es eine Dunkelziffer gebe. Jedoch werde dadurch auch deutlich, dass es bei der Polizei kein "Sodom und Gomorrha" gebe, wie manche wegen der Affäre um den Inspekteur vermuteten.
Die politische Dimension der Polizei-Affäre
Für das Ansehen der Polizei und das Innenministerium in Baden-Württemberg ist der Skandal ohne Zweifel eine schwere Belastung. Minister Strobl brachte sich durch die heimliche Weitergabe eines Schreibens des Anwalts von Andreas R. Ende 2021 an eine Zeitung selbst in die Bredouille. Die Staatsanwaltschaft wollte ermitteln, bekam dafür vom Innenministerium aber keine Ermächtigung. Vier Monate lang blieb unklar, wer das Schreiben durchgestochen hat. Bis Strobl Anfang Mai einräumte, es selbst veranlasst zu haben. Der Minister argumentierte, er habe keine Dienstgeheimnisse verraten. Er habe im Gegenteil für "maximale Transparenz" sorgen wollen. In dem Schreiben hatte der Anwalt dem Ministerium ein persönliches Gespräch angeboten, das für beide Seiten besser sei als ein juristisches Verfahren. Strobl argumentierte, dies sei ein "vergiftetes Angebot" für einen Deal gewesen. Um einer Veröffentlichung durch die Gegenseite zuvorzukommen, habe er das Schreiben einem Journalisten gegeben.
Die Opposition forderte daraufhin Strobls Rücktritt. Der CDU-Politiker lehnte das ab und bekam Rückendeckung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Dennoch ermittelte die Staatsanwaltschaft dann auch gegen Strobl wegen der Weitergabe des Anwaltsschreibens. Kurze Zeit später wurde im Landtag der U-Ausschuss eingesetzt. Ende Oktober 2022 wurde das Angebot der Staatsanwaltschaft bekannt, das Verfahren gegen Strobl einzustellen, wenn er eine Geldauflage von 15.000 Euro bezahlt. Der Innenminister akzeptierte und holte sich dafür Unterstützung von der CDU-Fraktion.
FDP hält Rückzug Strobls weiter für überfällig
Für FDP und SPD ist Strobl jedoch längst noch nicht aus dem Schneider. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke hält den Rückzug des Ministers für überfällig. "Es ist unglaublich, welche Abgründe sich bei Spitzenbeamten auftun, die alle von Herrn Strobl in ihre Ämter gebracht wurden. Das Ansehen der Polizei und darüber hinaus unseres Landes insgesamt wird in den Dreck gezogen." Der SPD-Obmann Binder erinnerte daran: "Im Untersuchungsausschuss hat Innenminister Strobl mehrfach betont, er übernehme die persönliche Verantwortung für alles, was in seinem Ministerium passiert." Nun müsse er das auch tun, denn so gehe es nicht weiter. "Es ist bestürzend, wie der Skandal an der Spitze der Landespolizei mittlerweile auch bundesweit den Ruf der gesamten Landespolizei beschädigt. Für all jene Beamtinnen und Beamten, die jeden Tag auf der Straße diesen Rechtsstaat verteidigen, ist das eine einzige Katastrophe."
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