Ein Schüler hat in St. Leon-Rot eine Mitschülerin erstochen. Renate Kraus vom Frauennotruf Heidelberg fordert im SWR-Interview, Frauen bei einer Bedrohung nicht allein zu lassen.
Ein 18-Jähriger hat laut Polizei am Donnerstag (25. Januar) in einem Privatgymnasium in St. Leon-Rot (Rhein-Neckar-Kreis) eine gleichaltrige Mitschülerin erstochen. Er war den Ermittlungen zufolge in der Vergangenheit mit der Schülerin liiert gewesen. Diese hatte den 18-Jährigen bereits im November 2023 wegen vorsätzlicher Körperverletzung angezeigt. Laut Staatsanwaltschaft gab es kein gerichtlich verhängtes Annäherungsverbot. Mit der Schule soll aber vereinbart worden sein, die beiden möglichst räumlich getrennt in verschiedenen Kursen zu unterrichten.
Der tatverdächtige 18-Jährige sitzt in Untersuchungshaft. Am Montag hat die Staatsanwaltschaft Heidelberg dem SWR Medienberichte bestätigt, wonach der 18-Jährige bisher zu den Vorwürfen schweigt.
Renate Kraus vom Frauennotruf Heidelberg erklärt vor diesem Hintergrund im SWR-Interview, wo es bei der Prävention noch Defizite gibt und warum es immer wieder zu Femiziden kommt. Femizid bedeutet: die Tötung von Frauen oder Mädchen als extreme Form geschlechtsbezogener Gewalt.
SWR Aktuell: Wie hätte der Frauennotruf dem Mädchen in diesem Fall helfen können?
Renate Kraus: In dem Fall hätten wir - da es nach allem, was wir wissen, um Körperverletzung und nicht um sexuelle Gewalt ging - die junge Frau an "Frauen helfen Frauen" weiter verwiesen. Wir haben in Heidelberg zwei Beratungsstellen. Unser Schwerpunktthema (Frauennotruf) ist sexualisierte Gewalt - also Vergewaltigung, sexueller Missbrauch in der Kindheit, sexuelle Belästigung. "Frauen helfen Frauen" haben den Schwerpunkt auf körperlicher Gewalt.
SWR Aktuell: Warum gibt es immer wieder und immer noch Femizide?
Kraus: Ich denke, das hat ganz viel mit den Geschlechterrollen und mit den gesellschaftlichen Strukturen zu tun. Aus unserer Sicht leben wir immer noch in einem Patriarchat (ein von Männern geprägtes Gesellschaftssystem). Es gibt eine feste Rollenzuschreibung, was Mädchen/Frauen und was Jungen/Männer betrifft. Bundesweit wird an jedem dritten Tag eine Frau ermordet. Wir beim Heidelberger Frauennotruf haben im Durchschnitt jeden Monat eine Frau in der Beratung, die aktuell von Vergewaltigung betroffen ist. Das alles hat etwas mit den gesellschaftlichen Strukturen zu tun. Da müssen wir unbedingt ansetzen. Oft wird gefragt: "Was können denn die Frauen tun?" Die sollen Wendo-Kurse (Selbstverteidigung), Selbstbehauptungs-Kurse machen, Präventionsangebote wahrnehmen. Aber ich denke, es ist auch ganz wichtig, bei den Jungen und den Männern anzusetzen und zu fragen: Was können die denn tun? Was stimmt denn da mit dem Rollenbild nicht?
SWR Aktuell: Wie konkret muss man an diese Strukturen ran?
Kraus: Schon im Kindergarten und in den Schulen. Es ist wichtig, dass Menschen das auf dem Schirm haben, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.
SWR Aktuell: Können Sie ein konkretes Beispiel geben, wie so etwas aussehen könnte, auf was man da achten sollte?
Kraus: Zum Beispiel: Ein Mädchen erzählt in der Schule: "Da ist einer übergriffig, der betatscht mich." Oder: "Da beschimpft mich einer." Das wird oftmals verharmlost. Da wird dann gesagt: "Naja, das ist halt die Pubertät. Die Jungs probieren sich aus, ist ja nicht so schlimm. Der hats ja eigentlich nicht so gemeint." Es wäre aber ganz gut, das ernst zu nehmen und eher zu sagen: "Nein, das ist nicht in Ordnung." Und dann müssen die Verantwortlichen auch mit den Jungs sprechen und ihnen die Grenzen aufzeigen. Geschieht dies nicht, wird das von manchen Jungen als Bestätigung erlebt. Grenzüberschreitendes Verhalten kann sich so verfestigen.
Ein Beispiel aus dem Bereich der sexuellen Belästigung: Wir hatten neulich einen Fall von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Da sagt der Chef dazu: "Na, zu meiner Zeit war das noch ein Kompliment." Solche Sachen finden Sie überall. Und das hat etwas mit den Rollenbildern (Mann/Frau) zu tun.
SWR Aktuell: Wie sollen sich Frauen verhalten, wenn sie bedroht werden?
Kraus: Erst mal ist es gut, wenn sie sich Unterstützung holen, nicht alleine damit bleiben. Sie können zu Fachberatungsstellen gehen, sich mit ihren Freundinnen austauschen. In manchen Schulen gibt es auch Schul-Sozialarbeiterinnen und -Sozialarbeiter.
Es ist auch ganz wichtig, auf das eigene Gefühl zu hören, wenn meine Grenze überschritten wird. Dass ich das als Frau wahrnehme und nicht darauf warte, bis tatsächlich etwas passiert. Und die Gesellschaft sollte nicht immer nur in die eine Richtung fragen: "Wie sollten sich Frauen verhalten, wenn sie sich bedroht fühlen?" Sondern wir müssen immer auch in die andere Richtung fragen: Warum bedrohen Männer Frauen?
SWR Aktuell: Wo sehen Sie Defizite in der Prävention?
Kraus: Ich finde, es müsste Präventionsprojekte an allen Schulen geben. Und gerne auch schon im Kindergarten. Auf jeden Fall in den weiterführenden Schulen. Die Präventionsprojekte müssten allgemein breiter aufgestellt sein. Es reicht nicht, einmal im Jahr ein Präventionsprojekt in die Schule zu holen. Es geht um eine alltägliche Haltung, die ein respektvolles Miteinander verkörpert und einfordert.
Und ich würde mich sehr freuen, wenn es auch für Jungen eine spezifische feministische Jungenarbeit geben würde, wo eben die Geschlechterrollen auch kritisch hinterfragt und die Jungs gut unterstützt werden. Klar: Jungen sind in der Kindheit häufig auch von sexuellem Missbrauch betroffen - Mädchen noch etwas häufiger. Aber für die Mädchen hört das nicht auf, wenn sie erwachsen werden. Für die Jungen in der Regel schon.
Pilotprojekt "Armed": Mit der Datenbrille auf Spurensuche Rechtsmediziner in Heidelberg helfen bei Untersuchung von Gewaltopfern
Mit Telemedizin unterstützt die Heidelberger Gewaltambulanz Ärzte in Krankenhäusern bei der Untersuchung von Gewaltopfern und der gerichtsfesten Dokumentation der Beweise.
SWR Aktuell: Reichen denn Ihrer Meinung nach die bestehenden Regelungen und Gesetze der Justiz und der Polizei aus?
Kraus: Wenn sie angewendet werden, ja. Also, es gäbe natürlich schon noch ein bisschen Optimierungsbedarf. Zum Beispiel: Wir haben ja in Heidelberg die Gewaltambulanz. Da würde ich mir wünschen, dass eine Frau, die jemanden wegen Vergewaltigung anzeigt, immer in die Rechtsmedizin begleitet wird, damit eine gerichtsmedizinische Untersuchung stattfinden kann - wenn die Frau das möchte. Wir erleben es aber immer wieder, dass da nur die Adresse der Rechtsmedizin an die Frau weitergegeben wird. Nur: Nach einer stundenlangen Untersuchung - noch dazu, wenn es nachts passiert ist - geht keine Frau mehr in die Rechtsmedizin. Die ist dann einfach fertig. Von daher wäre es schön, wenn die Frau zuerst in der Rechtsmedizin untersucht wird - und danach kommt dann die Vernehmung.
Und wenn es um "Stalking" geht, wenn die Polizei dem Mann ein Annäherungsverbot ausgesprochen hat und der sich nicht daran hält: Auch da muss die Hilfe beschleunigt werden. Denn in der Regel braucht die Betroffene ja dann eine Zeugin, damit Stalking nachgewiesen werden kann. Das ist alles mega aufwändig.
Bundesweites Hilfetelefon
Es gibt ein bundesweites kostenloses Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen", das rund um die Uhr besetzt ist. Zu erreichen ist es unter der Nummer 116 016.
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