Fachtagung an der Universität

Heidelberg will "Autismus weiterdenken"

Stand

Von Autor/in Matthias Wiest

Wie kann man bei Kindern Autismus früher erkennen und was kann man dann tun, um sie und ihre Familien zu unterstützen? Darüber diskutieren rund 300 Experten in Heidelberg.

Es ist ein Leben "unter ständiger Anspannung". Das sagt Tanja Holeczek, Mutter eines autistischen Sohnes. Sie weiß genau, wie schwierig einfachste Dinge im Alltag für betroffene Familien werden können. "Haarewaschen, Zähneputzen, Schlafengehen - das alles sind riesige Herausforderungen", sagt sie bei der Pressekonferenz zur Autismus-Tagung in Heidelberg. Weil autistische Kinder sich eben ganz oft anders verhalten, als die meisten es kennen. Dabei schauten immer alle darauf, was NICHT funktioniert, anstatt den Fokus darauf zu legen, was gut läuft. Menschen wie ihr Sohn "haben alle ganz tolle Fähigkeiten", sagt sie.

300 Autismus-Experten tauschen sich in Heidelberg aus

Tanja Holeczek engagiert sich beim Selbsthilfeverein Autismus Norbaden-Pfalz. Weil es gut tut, mit Gleichgesinnten zu sprechen, denen man nicht alles erklären muss. Und weil sie dazu beitragen will, dass die Gesellschaft mehr auf die Stärken autistischer Menschen schaut als auf deren Schwächen. Deshalb ist sie zur Tagung in Heidelberg gekommen. Dort tauschen insgesamt 300 Expertinnen und Experten aus Medizin, Wissenschaft, Pädagogik und Wirtschaft sowie betroffenen Eltern ihre Erfahrungen aus. Um voneinander zu lernen und Familien besser zu unterstützen.

Früherkennung von Autismus enorm wichtig

Im Mittelpunkt steht die Früherkennung von Autismus - einer Entwicklungsstörung mit ganz unterschiedlichen Facetten, wie es in Heidelberg hieß. Derzeit lässt sie sich bei Kindern im Alter von zwei Jahren eindeutig diagnostizieren, künftig soll das aber noch deutlich früher möglich sein, indem schon Babies ganz gezielt neurobiologisch untersucht werden können, wenn ein Verdacht oder eine familiäre Vorgeschichte besteht. Dazu gehört auch das sogenannte Phenomobil, das in Heidelberg vorgestellt wurde: Ein umgebauter Kleinbus mit mobilem Untersuchungsslabor für Säuglinge. Kameras und Mikrofone erfassen dort Bewegungen, Gesten und soziale Reaktionen von Babies und vergleichen sie mit denen gesunder Kinder.

Das "Phenomobil" vor der Uni Heidelberg - ein Fahrzeug, mit dem frühkindlicher Autismus diagnostiziert werden kann
Das "Phenomobil" vor der Uni Heidelberg - ein Fahrzeug, mit dem frühkindlicher Autismus diagnostiziert werden kann

Denn: Je früher die Diagnose, desto besser und zielgenauer kann Betroffenen und ihren Familien und auch dem sozialen Umfeld geholfen werden, besser miteinander zurechtzukommen. Und da es keinen "Biomarker" oder chemische Nachweise für Autismus gibt, kommt der verhaltensorientierten Diagnose eine Schlüsselrolle zu. Die Heidelberger Kinderpsychiatrie will dazu ein eigenes Forschungs- und Präventionszentrum aufbauen. "Wir müssen Autismus weiterdenken", sagt die Ärztliche Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Luise Poustka. Das heißt zum einen, den weiteren Lebensweg von Kindern mit der Diagnose Autismus im Blick zu behalten, und zum anderen die Erforschung autistischer Störungen selbst auszuweiten. Denn eines ist klar: "Wegtherapieren" könne und wolle man Autismus nicht.

Autismus-Berater in der Berufsschule und bei SAP

Weltweit sind laut Uniklinikum ein bis 1,2 Prozent der Bevölkerung Autismus-Betroffene. Jeder zweite von ihnen gilt als geistig beeinträchtigt. Nur jeder fünfte kommt allein zurecht. Aber es gibt auch die anderen, die ein weitgehend selbständiges Leben führen und lediglich Unterstützung im sozialen und kommunikativen Bereich brauchen. Damit das gelingt, kümmert sich zum Beispiel der Pädagoge Gerald Brandt um junge Autisten in den Berufsschulen der Rhein-Neckar-Region. Als Autismus-Berater sorgt er dafür, dass es bei Konflikten möglichst nicht zu Zerwürfnissen und Schulverweisen kommt. Soll heißen: Er erklärt Schülern und Lehrern immer wieder das Verhalten autistischer Jugendlicher. Und zeigt Wege auf, wie sie damit umgehen können.

Eine ähnliche Aufgabe hat Stefanie Lawitzke. Sie arbeitet beim Walldorfer Software-Konzern SAP und betreut dort etwa 60 Autistinnen und Autisten. Vor über zehn Jahren hat SAP das Programm "Autism at Work" gestartet - erfolgreich, sagt Lawitzke. Es ermögliche Betroffenen, am Berufsleben teilzuhaben und Karriere zu machen. Sie selbst sieht sich als "Übersetzerin" zwischen autistischen Mitarbeitern und den übrigen Team-Mitgliedern.

Allen Beteiligten gemeinsam, das zeigt die Heidelberger Tagung, ist der Wunsch, mehr für Betroffene zu tun und sie besser zu unterstützen. Und zwar durchs gesamte Leben.

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