Zwei große Festivals in Baden-Württemberg sind abgesagt - eines davon für immer. Eine SWR-Recherche zeigt: Pandemie und Energiekrise haben der Kulturbranche nachhaltig geschadet.
Die Corona-Pandemie ist vorbei, die letzten Schutzmaßnahmen sind Anfang April ausgelaufen - doch die Kulturbranche scheint sich von dem Einschnitt durch die Corona-Regeln noch immer nicht vollends erholt zu haben. Deutliche Hinweise darauf, dass noch einiges im Argen liegt, sind die Absagen zweier großer Rockfestivals in Baden-Württemberg.
So zogen die Macher des Download-Festivals, das am 23. und 24. Juni in Hockenheim (Rhein-Neckar-Kreis) hätte stattfinden sollen, Ende Mai recht kurzfristig die Reißleine. In ihrer Begründung dafür blieben sie allerdings vage. Die massive Anzahl von Open-Air-Veranstaltungen in diesem Sommer erschwere die Organisation und Durchführung erheblich, heißt es darin. Bis zuletzt habe man versucht, das Festival zu realisieren, doch die "produktionstechnischen Hindernisse" hätten sich als unüberwindbar erwiesen, schreibt die Veranstalterfirma Live Nation Entertainment. Unklar bleibt dabei, ob mit den unüberwindbaren Hindernissen Personalmangel, zu hohe Kosten oder schlechte Verkaufszahlen gemeint sind.
Bang Your Head-Veranstalter gibt endgültig auf
Deutlich konkreter wurde der Veranstalter des Bang Your Head-Festivals, Horst Franz, nachdem er sein für Mitte Juli in Balingen (Zollernalbkreis) geplantes Heavy-Metal-Open-Air bereits Anfang Mai abgesagt hatte. Auch künftig werde es kein Bang Your Head-Festival mehr geben, erklärte er in einer Art Abschiedsbrief an die Fans. Die ganze Szene habe sich gewandelt und die Voraussetzungen für die Veranstaltung eines Events wie dem in Balingen seien 2023 völlig andere als 2019 - auch in wirtschaftlicher Hinsicht. "Die Preise sind an allen Fronten explodiert" schreibt Franz. Neben Corona hätten dazu auch die Energie- und Wirtschaftskrise infolge des Kriegs in der Ukraine zu einem beträchtlichen Teil beigetragen.
Auch die Gagen, die die Bands verlangen, seien rundum deutlich gestiegen. "Wo früher Vertrauen und ein gesunder Interessenausgleich im Mittelpunkt (...) standen, beharren inzwischen zu viele darauf, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen knallhart durchzusetzen", heißt es in dem Schreiben weiter - die Enttäuschung ist dabei unüberhörbar. Deshalb, so schließt Franz' Argumentation, könnten er und sein Team selbst mit höher kalkulierten Ticketpreisen die Kosten nicht mehr decken - und noch teurer könnten sie das Event nicht mehr machen.
Auch Southside-Veranstalter spürt gestiegene Kosten und Personalmangel
Keine größeren Probleme scheint es bislang bei FKP Scorpio zu geben, dem in Hamburg ansässigen Veranstalter des Southside-Festivals in Neuhausen ob Eck (Kreis Tuttlingen). Die größte Herausforderung seien die gestiegenen Kosten, die über alle Bereiche gemittelt rund 45 Prozent höher seien als vor der Pandemie, sagte der Sprecher von FKP Scorpio, Jonas Rode, dem SWR. Auch der Personalmangel sei spürbar. "Glücklicherweise sind wir aber gut vernetzt und damit in der Lage, diesen Effekt aufzufangen", so der Sprecher.
Allerdings hat FKP Scorpio die Ticketpreise ordentlich erhöht: Kostete ein Ticket für das komplette Festival 2019 noch zwischen 189 und 219 Euro (je nach Phase des Ticket-Verkaufs), müssen Besucherinnen und Besucher dafür 2023 bis zu 259 Euro hinblättern. Im Extremfall entspricht dies einer Preiserhöhung von 70 Euro, also mehr als ein Drittel.
Es scheint also, als bliebe den Veranstaltern nichts anderes übrig, als ihre gestiegenen Kosten an die Besucherinnen und Besucher weiterzugeben, wenn sie im Geschäft bleiben wollen. Mit dem Verlauf des Ticketverkaufs zeigt sich FKP Scorpio dennoch zufrieden: "Wir steuern wieder auf ausverkaufte Festivals zu, was vor dem Hintergrund der aktuellen gesamtwirtschaftlichen Situation nicht zu jeder Zeit erwartbar war", so Rode.
Maifeld Derby-Organisator: "Wir sind 50 Prozent teurer geworden"
Auch beim Maifeld-Derby in Mannheim läuft es wohl noch einigermaßen gut: "Wir sind sehr zufrieden, aber ganz ausverkaufen werden wir wohl nicht", sagt Timo Kumpf, der Gründer und Kopf des Festivals. Das Maifeld-Derby, bei dem vor allem Indie-Rockgruppen auftreten, findet am Wochenende vom 16. bis 18. Juni am Reitstadion des Mannheimer Maimarkt-Geländes statt.
Die guten Verkaufszahlen führt Kumpf sowohl auf die Verlässlichkeit seines Teams als auch auf die Loyalität der Besucherinnen und Besucher zurück. Er gibt aber auch zu: "Seit 2018 sind wir rund 50 Prozent teurer geworden." Ein Ticket für das komplette Festival schlägt aktuell mit 175 Euro zu Buche. Die Preissteigerung sei aber schon vor Corona geplant gewesen, um ein teureres Programm finanzieren zu können. Negatives Feedback hätten die Macher dafür bislang nicht bekommen, so Kumpf gegenüber dem SWR. "Die Besucher*innen wissen, dass sie bei uns von der Musik über Tonqualität bis hin zu gescheiten Toiletten auch Qualität bekommen."
Starke Zweifel hat er jedoch an den offiziellen Begründungen für die Absagen von Download-Festival und Bang Your Head: "Mir kann niemand erzählen, dass Big Player und Monopolisten kein Personal bekommen", sagt er. Darum vermute er, dass vor allem schwache Ticketverkäufe der Grund für die Absagen gewesen seien.
Allerdings befürchte er, dass sich die Situation bis zum nächsten Jahr noch verschlechtere und es noch mehr unabhängige Festivals treffen werde. "Die Corona-Hilfen wie 'Neustart Kultur' vom Bund haben das bisher abgefedert, aber ein gewisses Segment wird mittelfristig ohne öffentliche Förderung nicht überleben können", glaubt Kumpf. Auch vor der Pandemie sei es schon schwer gewesen - jetzt nahezu unmöglich. "Also entweder Förderungen oder den Markt ganz Eventim und Ticketmaster überlassen - das wäre sehr traurig", so der Gründer des Maifeld-Derbys. Er hoffe sehr, dass das von der Politik erkannt werde. Eventim und Ticketmaster sind Dienstleistungsunternehmen, die Tickets für Kulturveranstaltungen vertreiben und auf dem Markt in mehreren Ländern, darunter in Deutschland und den USA, zu einer monopolähnlichen Stellung gelangt sind.
Fans kaufen Tickets seit der Pandemie später
Der Musikszene-Kenner Arnulf Woock, der unter anderem die Pressearbeit für die Stuttgarter Konzertagenturen Music Circus und Michael Russ macht, ist sich sicher: "Die Auswirkungen der Pandemie sind nicht erledigt." Nach wie vor würden Konzerte nachgeholt, die eigentlich schon vor drei Jahren hätten stattfinden sollen, aber wegen der Pandemie mehrmals verschoben wurden. Diese Erfahrung wirke sich auch auf das Kaufverhalten der Menschen aus: Tickets würden seither tendenziell später gekauft - wenn eben sicher sei, dass ein Konzert oder Festival auch stattfinde und nicht mehr verschoben werde.
"Und die Produktionen sind deutlich teurer geworden", sagt Woock. Das habe auch mit dem Personalmangel zu tun. "In den vergangenen drei Jahren sind viele Beschäftigte aus der Veranstaltungsbranche in andere Bereiche abgewandert", so der Szenekenner. Nur ein Teil von ihnen sei zurückgekehrt - und könne nun eben leichter höhere Preise verlangen.
Szenekenner: Konkurrenz um Headliner treibt Gagen in die Höhe
Dass auch die Künstlerinnen und Künstler jetzt deutlich höhere Gagen verlangen, bestätigt Woock. Doch im Gegensatz zu Bang Your Head-Organisator Franz kann er dafür Verständnis aufbringen: Viele von ihnen hätten während der Pandemie ihre Rücklagen aufgebraucht und müssten sich nun wieder finanziell absichern. Auch ihre Personalkosten seien gestiegen, was das Touren teurer mache.
Im Headlinersegment - also bei sehr erfolgreichen Bands, die von Festivalveranstaltern als Publikumsmagnete eingesetzt werden - treibe der Konkurrenzdruck zwischen verschiedenen Festivals die Gagen noch zusätzlich in die Höhe. "Da greift dann die Marktwirtschaft - bei größerer Nachfrage steigen die Preise", erklärt Woock.
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Haben kleinere Festivals mittelfristig keine Überlebenschancen mehr? "Einen gewissen Verdrängungswettbewerb hat es schon immer gegeben, aber die Bedingungen haben sich in letzter Zeit definitiv verschärft", sagt der Szenekenner. In der Folge seien die Veranstalter gezwungen, auch die Ticketpreise zu erhöhen - im Schnitt um rund 20 bis 25 Prozent, schätzt er.
Dass bei großen Festivals und Konzerten die Preise derart steigen, verursacht aus seiner Sicht weitere Probleme für die Kulturbranche: "Wenn die Leute schon 150 bis 200 Euro für ein Ticket für die Stadiontour einer Band ausgegeben haben, dann kann es gut sein, dass sie dafür zwei kleinere Konzerte auslassen", meint Woock.
Wie sähe eine mögliche Lösung aus?
"Letztlich muss die Gesellschaft - und auch die Politik entscheiden, was ihr der Kulturbereich wert ist - und zwar nicht nur im Klassikbereich, sondern auch was Pop und Rock anbelangt", sagt Woock. So würden sich Clubkonzerte als Format für Veranstalter aufgrund des Personalaufwands nicht mehr rechnen. "Wir Konzertveranstalter organisieren sie nur deshalb noch, weil wir sie als wichtigen Aspekt von Nachwuchsförderung und dem Aufbau von neuen Künstlerinnen und Künstlern sehen."
Konkret in Stuttgart verschwänden auch immer mehr Spielstätten in dem Bereich: das Universum, der Kellerclub, Die Röhre, der Landespavillon - über die Jahre hätten immer mehr Bühnen geschlossen. Ersatz sei bislang keiner in Sicht - an dem Punkt könne aus seiner Sicht die Politik ganz konkret helfen. Woocks Vorschlag: Beim Neubau von Geschäftshäusern könnte zum Beispiel festgelegt werden, dass im Erdgeschoss Räume für Kulturveranstaltungen geschaffen werden müssen.
Und wie geht es dem Rest der Kulturbranche?
Laut dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg (MWK) gibt es viele positive Tendenzen. Demnach würden Besucherzahlen aus den Jahren vor der Pandemie zum Teil sogar übertroffen. Im Detail ergebe sich ein spartenspezifisches Bild: "Klassische Konzerte haben grundsätzlich noch nicht die Besucherzahlen wie vor Corona erreicht, im populären Konzertbereich sind in der Regel sogenannte Spitzenevents sehr gut besucht, während mittlere bis kleinere Popkonzerte noch nicht an bisherige Besucherzahlen anknüpfen können", so eine Sprecherin des MWK gegenüber dem SWR. Im Kinobereich gebe es einen deutlichen Aufwärtstrend, positive Rückmeldungen kämen auch von den Theatern.
Bereits 2022 habe das MWK das Impulsprogramm "Kultur nach Corona" aufgelegt, um eine nachhaltige Wiederaufnahme des Kulturbetriebs zu ermöglichen. Die Programmteile "Kunst trotz Abstand" und "Zukunftsstark" seien speziell auf die Ziele "Rückgewinnung von Publikum" und "Resilienzstärkung von Kultureinrichtungen" zugeschnitten. Die Laufzeiten der mit diesem Programm geförderten Projekte reichten bis weit ins Jahr 2023.
Kulturfonds Energie vom Bund hilft bei Energiekosten
Zur Abfederung der steigenden Energiekosten setze das MWK aktuell den "Kulturfonds Energie" des Bundes mit einem bundesweiten Fördervolumen von bis zu einer Milliarde Euro um, so die Sprecherin. Öffentliche und private Kultureinrichtungen sowie Kulturveranstalter können darüber anteilig ihre Mehrkosten für Gas, Fernwärme und netzbezogenen Strom ausgleichen. Gefördert wird rückwirkend vom 1. Januar 2023 bis zum 30. April 2024.
"In jedem Fall weiterführen werden wir den Innovationsfonds Kunst, in den wir die Erfahrungen, die wir aus den Corona-Förderprogrammen gewonnen haben, einfließen lassen", so die Sprecherin gegenüber dem SWR. Aktuell werde über die Förderungen für 2023 entschieden.