Dürfen auch verbeamtete Lehrkräfte streiken, um bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen? Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte treten drei Lehrerinnen und ein Lehrer dafür ein.
Im Februar 2009 legte die Lehrerin Kerstin Wienrank die Arbeit nieder. Gemeinsam mit tausenden Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ging sie in Hannover auf die Straße. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatte gemeinsam mit anderen Gewerkschaften zu ganztägigen Warnstreiks aufgerufen. Es liefen Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst und der Streik sollte "Druck" machen, erinnert sich Wienrank. Es ging dabei auch um mehr Lohn für angestellte Lehrkräfte.
Doch Kerstin Wienrank ist verbeamtete Lehrerin. Und wer verbeamtet ist, darf in Deutschland nicht streiken. Kerstin Wienrank hätte also in der Schule sein müssen. Sie fehlte einen Schultag lang, verpasste vier Unterrichtsstunden.
Im Juli 2009 wurde ihr deshalb das Gehalt gekürzt um rund 150 Euro. Später bekam sie zusätzlich eine Geldbuße in Höhe von 100 Euro. "Es war das einzige Mal, dass ich gestreikt habe", sagt Wienrank. "Ich wusste aber auch damals schon, dass das Konsequenzen haben wird und ich war bereit, diese zu tragen."
Sie sei dafür eingetreten, dass "die erkämpften Tarifergebnisse auf den Beamtenbereich unmittelbar" übertragen werden, schreibt sie später im Rahmen des Disziplinarverfahrens gegen sie. Sie sei dem Aufruf in „maßvollem Umfang“ gefolgt. Sie habe dies auch für verantwortbar gehalten, da "durch schulinterne Regelungen und Absprachen ein ‚Schaden‘ für Schülerinnen und Schüler nicht entstehen konnte".
Große Kammer verhandelt selten Fälle aus Deutschland
Über ihren Fall und den von zwei weiteren Lehrerinnen und einem Lehrer hat am Mittwoch die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhandelt. Vor deutschen Gerichten hatten die vier Lehrkräfte alle erfolglos gegen die ihnen auferlegten Geldbußen geklagt.
Der Gerichtshof hat den Fall direkt an die Große Kammer, in der 17 Richter und Richterinnen aus den Mitgliedstaaten des Europarats sitzen, verwiesen. Das heißt, er misst dem Verfahren besondere Bedeutung zu. Es ist sehr selten, dass die Große Kammer eine Beschwerde gegen Deutschland verhandelt. Während der Verhandlung hatten die europäischen Richterinnen und Richter eine Reihe kritischer Nachfragen an beide Seiten. Ein Urteil werden sie erst in einigen Monaten sprechen.
Bundesverfassungsgericht: Beamte haben Treuepflicht
Vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof hatte sich in Deutschland das Bundesverfassungsgericht mit dem Streikverbot befasst. Es wies die Verfassungsbeschwerden des Lehrers und der drei Lehrerinnen 2018 zurück.
Das Streikverbot sei ein "eigenständiger hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums" im Sinne von Artikel 33 Absatz 5 Grundgesetz. Danach ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung dieser Grundsätze zu regeln und fortzuentwickeln.
Das System des deutschen Beamtenrechts zeichne sich durch aufeinander abgestimmte Rechte und Pflichten aus. So hätten Beamte eine Treuepflicht gegenüber dem Staat, damit dieser jederzeit, auch in Krisen, handlungsfähig bleibe. Im Gegenzug habe der Staat eine Fürsorgepflicht gegenüber Beamten. Sie sind auf Lebenszeit angestellt und müssen angemessen bezahlt werden. Eine angemessene Besoldung können sie im Zweifel vor Gericht einklagen. Angestellte des öffentlichen Dienstes können das nicht.
Streikverbot nur für hoheitlich tätige Beamte?
Ein Streikrecht für bestimmte Gruppen könne das gesamte System in Mitleidenschaft ziehen, so das Bundesverfassungsgericht damals. Eine Differenzierung würde zu Abgrenzungsproblemen führen.
Der Lehrer und die Lehrerinnen hatten argumentiert, ein Streikverbot sei nur zulässig gegenüber Beamten, die hoheitlich tätig werden, also etwa gegenüber der Polizei und dem Militär. Nicht aber gegenüber Lehrkräften.
Sie stützten sich dabei bereits auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der hatte 2009 in einem Fall aus der Türkei entschieden, dass das Streikrecht nicht absolut sei. Es könne von Voraussetzungen abhängig gemacht oder beschränkt werden. So könne es mit der Gewerkschaftsfreiheit vereinbar sein, Streiks von Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu verbieten, die Hoheitsgewalt ausübten. Ein Streikverbot dürfe aber nicht insgesamt für den öffentlichen Dienst ausgesprochen werden, heißt es in der damaligen Entscheidung zum Fall aus der Türkei.
Aus Sicht der Bundesregierung hat diese Entscheidung zu Verunsicherung bei deutschen Gerichten geführt. Sie erhofft sich nun eine Klarstellung, dass diese Entscheidung nicht auf Deutschland übertragbar ist. In Europa existierten ganz unterschiedliche Regelungen des Beamtentums. Es gebe insoweit keinen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats. Der deutsche Gesetzgeber habe deshalb einen weiten Entscheidungsspielraum habe, sagte der Vertreter der Bundesregierung Christian Walter in der Verhandlung.
Das System von angestellten und verbeamteten Lehrkräfte
Ein weiteres Argument der Bundesregierung: Verbeamtete Lehrkräfte hätten die Möglichkeit, um eine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis zu bitten und sich anstellen zu lassen. Dann hätte sie auch das Recht zu streiken.
Vor diesem Hintergrund wollte die österreichische Richterin Gabriele Kucsko-Stadlmayer von den Klägern wissen, ob die Beschwerdeführer jemals versucht hätten, aus ihrem Status als verbeamtete Lehrer in ein Angestelltenverhältnis zu wechseln. "Ist Ihnen dieser Wechsel jemals versagt worden?"
Die Antwort ist, nein haben sie nicht. Aus Sicht der Gewerkschaft GEW, die die Klägerinnen und Kläger unterstützt, liegt das auch an hohen faktischen Hürden. Lehrkräfte würden Pensionsansprüche verlieren und müssten sich privat krankenversichern, sagt Maike Finnern, GEW-Vorstandsvorsitzende. "Und ob man hinterher wieder in der Schule arbeiten darf als Lehrkraft, das ist noch lange nicht gesagt." Es gebe keine rechtliche Garantie, hinterher wieder eingestellt zu werden.
Ganz generell warf das deutsche System mit angestellten und verbeamteten Lehrkräften Fragen auf: "Wie wirkt sich das in den Schulen aus", fragte der slowenische Richter Marko Bosnjak. "Gibt es eine bestimmte Mindestzahl oder einen Prozentsatz für verbeamtete Lehrkräfte in einer Schule, die als nötig erachtet wird, um ein ausreichendes Niveau an Ausbildung zu garantieren?"
Wer würde von Urteil profitieren?
Der Vertreter der Bundesregierung warnte zum Schluss vor einem Urteil zugunsten der Lehrkräfte: "Wer wird von einer Entscheidung profitieren, die eine Verletzung der Konvention feststellt? (…) Die Schüler und Eltern sicherlich nicht. (…) Vielleicht Lehrkräfte im Allgemeinen."
Das halte er aber für unwahrscheinlich. Die wahrscheinlichste Folge sei nicht, dass verbeamtete Lehrkräfte das Recht bekämen zu streiken, sondern dass Lehrkräfte nicht mehr verbeamtet würden.
Der Vertreter der Lehrkräfte, Rudolf Buschmann, hatte eine andere Antwort auf die Frage: "Die Menschenrechte also solche wären die Gewinner."