Eine ukrainische Geflüchtete und ein Kind am slowakischen Grenzübergang.

Integration zentrale Aufgabe

Migrationsforscher: Das muss jetzt für Geflüchtete in BW getan werden

Stand
Interview
Christian Susanka

Die derzeitigen Flüchtlingszahlen stellen Bund und Länder vor Herausforderungen. Der Mannheimer Migrationsforscher Marc Helbling ordnet die aktuelle Flüchtlingsbewegung ein.

Beim baden-württembergischen Flüchtlingsgipfel treffen sich Vertreterinnen und Vertreter von Kommunen, Landtagsfraktionen, der Wirtschaft sowie Flüchtlingshelferinnen und -helfer. Sie wollen sich über die Lage der rund 160.000 Geflüchteten im Land austauschen. Gleichzeitig sieht der Mannheimer Migrationsforscher Marc Helbling die Verantwortlichen jetzt vor allem bei der Integration von Geflüchteten in der Pflicht.

SWR Aktuell: Herr Helbling, seit knapp zehn Monaten erleben und beobachten wir in Europa eine Flüchtlingsbewegung, wie wir sie noch nicht erlebt haben. Was ist das Neue an diesem Flüchtlingsstrom?

Marc Helbling: Die Flüchtlinge aus der Ukraine haben für uns einen völlig neuen Blick auf das Thema Flucht an sich geschaffen. Zum ersten Mal haben wir es hier mit einer Flucht zu tun, die nicht aus dem globalen Süden kommt. Und ein völlig neues Bild der Fluchtursachen. Wir lernen: Flucht ist eben nicht nur ein Phänomen, das auf anderen Kontinenten stattfindet oder aus einem anderen Zeitalter stammt. Es kann eben auch jetzt und in unseren Nachbarländern zur Flucht kommen.

SWR Aktuell: Deutschland und Europa haben ja mit der Flüchtlingsbewegung 2015 schon Erfahrungen gemacht. Jetzt sind aber seit März 2022 viel mehr Menschen gekommen, in viel kürzerer Zeit.

Helbling: Die Bereitschaft, syrischen Flüchtlingen zu helfen, war schon während der Flüchtlingskrise 2015 groß. Im Falle der Ukraine-Flüchtlinge gab es allerdings nochmals andere Bedingungen. Zum Beispiel politisch durch die "Massenzustromrichtlinie" der EU. Und es gab natürlich auch eine ganz andere geopolitische Situation. Die hat mit dem Angriffskrieg auch ganz andere Reaktionen hervorgerufen, so dass man einmal mehr die Ukraine und die ukrainischen Geflüchteten unterstützen wollte. Und Aufgrund der Zahl der Flüchtlinge hat die Situation das ganze System vor große Herausforderung gestellt.

SWR Aktuell: Wir reden ja über etwas, was noch nicht zu Ende ist.

Helbling: Ja. Das ist natürlich schwierig zu sagen, weil alles davon abhängt, wie der Krieg verläuft. Das ist ganz klar. Es wird sicher so sein, dass einige länger dableiben werden. Oder für immer hierbleiben werden. Wie wir das auch bei anderen Gruppen von Geflüchteten gesehen haben und da muss natürlich eine Perspektive geschaffen werden, diese Leute müssen integriert werden. Das kommt längerfristig sowohl Deutschland als auch den Geflüchteten zugute. Das kennen wir aus anderen Kontexten, wenn wir zu lange warten entstehen neue Probleme. Wenn die Geflüchteten die Sprache nicht lernen, sich nicht integrieren können, nicht arbeiten können.

SWR Aktuell: Wie fällt da die bisherige Bilanz aus?

Helbling: Das kann man jetzt noch nicht sagen. Wir sehen natürlich eine große Herausforderung, Wohnraum, Schulen und Betreuung zur Verfügung zu stellen. Da zeigt sich ja ein ganz anderes Problem. Ich meine, es war schon vorher schwierig, genügend Kita-Plätze zur Verfügung zu stellen, oder in gewissen Städten eine Wohnung zu finden. Ähnlich wie in der Pandemie sehen wir auch, dass das Gesundheitssystem erneut sehr grenzwertig funktioniert. Der Ukraine-Flüchtlingszustrom war also eine Art Brennglas auf generelle Probleme, die angegangen werden müssten hier in Baden-Württemberg.

"Ich meine, es war schon vorher schwierig, genügend Kita-Plätze zur Verfügung zu stellen, oder in gewissen Städten eine Wohnung zu finden."

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SWR Aktuell: Seit Februar dieses Jahres sind neben den Flüchtlingen aus anderen Staaten 141.000 ukrainische Geflüchtete nach BW gekommen. So berichtet es das Migrationsministerium. Damit hat BW mehr ukrainische Geflüchtete aufgenommen als ganz Frankreich. Wie beobachten Sie diese Verteilungen?

Helbling: Das stellt auf jeden Fall ein Problem dar. Es ist natürlich geografisch erklärbar. Flüchtlinge flüchten zunächst einmal in Nachbarländer und dann vielleicht noch ein Land weiter. Verhältnismäßig hat Polen noch viel mehr Flüchtlinge aufgenommen. Aber man muss natürlich auch sehen, dass solche Probleme nicht auf der Ebene eines Landes und schon gar nicht von einem einzelnen Bundesland gelöst werden können. Es braucht da Regulierungen, nicht nur auf Bundesebene sondern vielmehr auf europäischer Ebene. Zum einen, dass Geflüchtete besser verteilt werden. Zum anderen, dass sich alle Länder entsprechend ihrer Größe oder entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten beteiligen und Flüchtlinge aufnehmen. Es braucht da mehr Koordination und mehr Regulierung. Sonst führt das zu Ungerechtigkeiten, die in der Bevölkerungen nicht verstanden werden. Und das kann dann wiederum zu negativen Reaktionen führen, zu Frustrationen und Kritik am System und entsprechend auch zu politischen Konsequenzen, die man nicht unbedingt haben will. Bis zu dem Punkt, dass es Parteien zuspielt, die mit dem ganzen Migrationsthema ihr Geschäft machen.

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SWR Aktuell: Was lernen wir aus der aktuellen Situation?

Helbling: Ich denke schon, dass es immer wieder Gründe geben wird, warum Menschen flüchten, sei es Krieg oder überhaupt die wirtschaftliche Situation. Das heißt aber nicht, dass man mit größerem Flüchtlingsströmen rechnen muss als jetzt oder 2015. Aber in diesen Dimensionen kann so etwas natürlich wieder vorkommen. Deswegen glaube ich, dass wir da ein System brauchen, das vorbereitet ist und über entsprechende Infrastrukturen verfügt, die auch wieder hochgefahren werden können. Das sind keine Strukturen, die dauerhaft bestehen müssen. Das kann man natürlich auch gar nicht finanzieren. Aber es sollte Möglichkeiten geben.

SWR Aktuell: Wird der Klimawandel zu neuen und größeren Migrationsströmen nach Europa und Baden-Württemberg führen?

Helbling: Also ich glaube das nicht. Es wird zwar weiterhin Flüchtlingsströme geben: Kriege, Bürgerkriege und Wirtschaftskrisen. Ich glaube aber nicht, dass es zu viel größeren Fluchtproblemen kommt, als wir sie jetzt in den letzten Jahren gesehen haben. Der Klimawandel verursacht auf jeden Fall Migration. Aber diese findet vor allem im globalen Süden statt. Das passiert jetzt schon. Davon kriegen wir direkt ja gar nichts mit. Das sind übrigens ganz andere Dimensionen als hier in Europa.

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SWR Aktuell: Am Mittwochnachmittag findet im Stuttgarter Neuen Schloss ein Flüchtlingsgipfel statt: Vertreterinnen und Vertreter der Landesregierung und Kommunen sind mit dabei. Wie wichtig ist das?

Helbling: Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die Kommunen und alle involvierten Akteure wissen, dass sie vom Land unterstützt werden, dass sie auf das Land zählen können. Denn am Ende funktioniert die Versorgung von Geflüchteten und die Integration vor Ort. Und das ist ja eigentlich auch gut, weil das System so relativ flexibel ist. Das ist wiederum die eigentliche Stärke des Sytems. Aber es funktioniert natürlich nur, wenn entsprechende finanzielle Unterstützung vom Land und von der Bundesebene da ist, sodass man sich vor Ort nicht alleine gelassen fühlt.

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