Wer in BW in den Randzeiten einen Notfall hat, dürfte es künftig schwerer haben einen Arzt zu finden. Grund ist ein Gerichtsurteil. Für Manfred Lucha (Grüne) war das vermeidbar.
Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts zur Sozialversicherungspflicht von Poolärzten hat der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) scharfe Kritik am Bundesgesundheitsministerium von Karl Lauterbach (SPD) geübt. Als Konsequenz aus dem Urteil bleiben laut Kassenärztliche Vereinigung (KVBW) ab sofort in Baden-Württemberg acht von 115 Notfallpraxen geschlossen. Sechs weitere werden teilweise geschlossen.
Grund hierfür ist ein Urteil des Bundessozialgerichts, wonach sogenannte Poolärzte und Poolärztinnen - zum Beispiel Ruheständler - im Notfalldienst nicht automatisch selbstständig und somit sozialversicherungspflichtig sind. Das bestehende System kann so in der bisherigen Form nicht weitergeführt werden, wie die KVBW mitteilte. Seit Mittwoch gelte ein Notfallplan. Der Rettungsdienst und die Notaufnahmen sind von dem Urteil nicht betroffen.
Lucha will Ausnahmeregelung für Poolärzte
Das Urteil des Bundessozialgerichts wäre zu verhindern gewesen, sagte Lucha dem SWR. Mehrere Bundesländer, darunter Baden-Württemberg, hatten eine Ausnahmeregelung gefordert, der Vorschlag sei vom Bundesgesundheitsministerium allerdings abgelehnt worden. Dies sei bar jeder Vernunft, so Lucha weiter.
Die ambulante ärztliche Versorgung außerhalb der regulären Sprechstunden gehöre zu den unverzichtbaren Interessen des Allgemeinwohls, teilte Lucha mit. Nun sei dem ärztlichen Bereitschaftsdienst in BW in seiner jetzigen und gut funktionierenden Form die rechtliche Grundlage entzogen worden.
Der Grünen-Politiker kündigte in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Gesundheitsminister-Konferenz einen weiteren Vorstoß für eine Ausnahmeregelung bei der Sozialversicherungspflicht von Poolärzten an.
SPD fordert Machtwort von Lucha Richtung KVBW
Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Florian Wahl, sagte der Deutschen Presse-Agentur, es brauche nun ein Machtwort des Sozialministers. "Er ist jetzt als Aufsichtsorgan zuständig, den Sicherstellungsauftrag für den Notdienst bei der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg einzufordern." Er dürfe sich von der KVBW nicht auf der Nase herumtanzen lassen.
Acht Notfallpraxen müssen schließen
Geschlossen werden den Angaben nach die Notfallpraxen in Geislingen (Kreis Göppingen), Buchen (Neckar-Odenwald-Kreis), Schorndorf (Rems-Murr-Kreis), Möckmühl (Kreis Heilbronn), Waghäusel-Kirrlach (Kreis Karlsruhe), Künzelsau (Hohenlohekreis), Bad Säckingen (Kreis Waldshut) und Schopfheim (Kreis Lörrach).
Darüber hinaus kommt es zu Einschränkungen in den Praxen in Mühlacker (Enzkreis), Bietigheim-Bissingen (Kreis Ludwigsburg), Rastatt, Singen, Herrenberg (Kreis Böblingen) und Villingen-Schwenningen (Schwarzwald-Baar-Kreis). Dort machen die Notfallpraxen unter der Woche gar nicht mehr oder nur noch teilweise auf und konzentrieren sich auf das Wochenende und die Feiertage. In vielen weiteren werden der KVBW zufolge außerdem die Öffnungszeiten verkürzt.
So schätzt Nikolai Vack aus der SWR-Rechtsredaktion das Urteil ein:
Ärztlicher Notdienst: 3.000 Poolärzte fallen weg
Arztsitzinhaber, also Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, sind zum Bereitschaftsdienst verpflichtet. Sogenannte Poolärztinnen und Poolärzte konnten bisher zusätzlich am Bereitschaftsdienst freiwillig teilnehmen. Hierbei handelt es sich laut KVBW beispielsweise um Ruheständler oder Klinikärztinnen und -ärzte, die dazu eine Vereinbarung mit der jeweils zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung schließen. Poolärzte sind somit freiwillig im Bereitschaftsdienst mitarbeitende Ärztinnen und Ärzte und oft gar nicht über die Kassenärztliche Vereinigung versichert.
Bislang übernehmen die rund 3.000 Poolärzte ungefähr 40 Prozent der Dienste in den Notfallpraxen und der medizinisch erforderlichen Hausbesuche. Wenn für alle Ärztinnen und Ärzte eine Sozialversicherungspflicht in Kraft tritt, sei das laut KVWB weder finanziell noch organisatorisch zu stemmen. Das Urteil zwinge sie zu dieser Notbremse, teilten die KVBW-Vorstände Karsten Braun und Doris Reinhardt mit. Der Wegfall der Poolärztinnen und -ärzte könne nicht auf die Schnelle kompensiert werden.
Diese Notbremse greift laut KVBW für mindestens drei Monate. Erst wenn das schriftliche Urteil des Bundessozialgerichts vorliegt, könne die Vereinigung den ärztlichen Bereitschaftsdienst rechtssicher neu aufstellen. Die viele der Ärztinnen und Ärzte dann tatsächlich als nicht selbständig eingestuft werden, kann die KVBW auf SWR-Anfrage noch nicht sagen. Das könne erst geprüft werden, wenn das Urteil schriftlich vorliegt und die Details bekannt sind.
Urteil des Bundessozialgerichts sorgt für Schließungen
Stein des Anstoßes war ein Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel. Dort hatte ein Zahnarzt geklagt, der als sogenannter Poolarzt immer wieder Notdienste übernommen hatte. Die Rentenversicherung war davon ausgegangen, dass er selbstständig ist. Der 12. Senat entschied am Dienstag aber, dass die Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht automatisch zur Annahme einer selbstständigen Tätigkeit führt.
Vielmehr fand sich der Mann in "einer von dritter Seite organisierten Struktur vor, in der er sich fremdbestimmt einfügte". Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg hatte ihn zum Beispiel in Dienste eingeteilt und ihm Instrumente zur Verfügung gestellt. Infolgedessen habe er der Versicherungspflicht unterlegen, hieß es.
Notfallplan für den ärztlichen Notdienst: Folgen für die Menschen im Land
Der Notdienst soll demnach weiterhin sichergestellt sein - allerdings nicht im bisherigen Umfang. Das könnten die niedergelassenen Ärzte nicht stemmen. Die Regelversorgung sei bereits schwierig genug, da aktuell rund 1.000 Arztsitze nicht besetzt seien. Keine Änderungen soll es hingegen bei den gebietsärztlich organisierten Diensten wie dem augenärztlichen und dem Hals-Nasen-Ohren-Notfalldienst geben. Auch die Kindernotfallpraxen bleiben bestehen.
Warnung vor Auswirkungen auf die ärztliche Notversorgung
Mehrere Verbände warnten nach dem Urteil vor gravierenden Auswirkungen auf die ärztliche Notversorgung. Der Druck in den Praxen sei groß, teilte der Hausärzteverband mit. Bereitschaftsdienste an Poolärzte abzugeben, sei bislang eine wichtige und unkomplizierte Entlastung gewesen. Diese Möglichkeit falle nun weg.
Die Landesärztekammer rechnete mit deutlich längeren Wartezeiten. und appelliert an Ärzte- und Patientenschaft, nun erst einmal einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Politik müsse für Lösungen und Rahmenbedingungen sorgen, die wieder einen tragfähigen Notdienst ermöglichen, so die Forderung der Kammer.
Notaufnahmen befürchten größere Nachfrage
Die Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZV) Baden-Württemberg reagiert gelassen auf das Urteil und zieht keine Konsequenzen. Es handele sich dabei um eine Einzelfallentscheidung, teilt sie in einer schriftlichen Stellungnahme mit. Ob sich daraus in der Folge Auswirkungen ergeben, sei noch offen. Für die Patientinnen und Patienten im Land werde sich kurzfristig jedoch nichts ändern.
Der Rettungsdienst und die Notaufnahmen sind von dem Urteil nicht betroffen. Auch die Kindernotfallpraxen bleiben bestehen. Landkreistag, Gemeindetag und die Krankenhausgesellschaft befürchten aber, dass nun mehr Menschen in die Notaufnahmen kommen werden - auch ohne triftigen Grund. Das sei unter anderem aufgrund der angespannten Personalsituation aber nicht leistbar, hieß es.
Viel mehr Arbeit für niedergelassene Ärzte
Der Ärzteverbund Medi befürchtet Einschränkungen für die Patienten. Durch die neue Regelung würden künftig die niedergelassenen Ärzte die Notdienste parallel stemmen müssen, sagte Norbert Smetak, der Vorsitzende des Medi-Verbunds. Das bedeute reduzierte Notdienstzeiten, weniger Sprechzeiten in der Regelversorgung und einen weiteren Ansturm auf die Notaufnahmen der Krankenhäuser. Der Verbund vertritt nach eigenen Angaben rund 5.000 niedergelassene Mediziner und Medizinerinnen.
Der Virchowbund warnte gar vor einem Kollaps des ärztlichen Notfalldienstes in Baden-Württemberg. Das Bundessozialgericht habe mit sofortiger Wirkung eine bewährte Struktur der Notfalldienstversorgung faktisch außer Kraft gesetzt, sagte die Landesvorsitzende Brigitte Szaszi. Für die Patientinnen und Patienten heiße das nichts Gutes. Nachts werde man stundenlang auf den Notdienst warten müssen. Die Notaufnahmen würden überlaufen sein. Dadurch werde die ärztliche Versorgung erneut massiv bedroht. Im Virchowbund sind ebenfalls niedergelassene Mediziner organisiert.