Seit 2012 dürfen Eltern in Baden-Württemberg selbst entscheiden, auf welche weiterführende Schule ihre Kinder nach der Grundschule gehen. Viele Lehrkräfte befürworten das nicht.
Lehrer und Lehrerinnen weiterführender Schulen haben sich in Umfragen ihrer Berufsverbände mit deutlicher Mehrheit für die Wiedereinführung verbindlicher Grundschulempfehlungen ausgesprochen. Die Freigabe vor mehr als zehn Jahren ist seit jeher in Baden-Württemberg heftig umstritten. Das Thema dürfte daher auch an diesem Dienstag eine Rolle spielen, wenn sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne) vor Journalisten zur Unterrichtsversorgung äußern wollen.
Ständige Misserfolge für Schüler "tödlich" für weiteren Lebensweg
Der Realschullehrerverband hat rund 4.400 Lehrkräfte befragt. Der Philologenverband, der vor allem Gymnasiallehrkräfte vertritt, knapp über 1.000. Die Ergebnisse der zwei unterschiedlichen Umfragen fallen beide eindeutig aus. So sprachen sich 78 Prozent der Lehrkräfte, die vom Realschulverband befragt wurden, und 94 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien für die Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung aus. Als Begründung, die der Philologenverband ebenfalls abfragte, nannten die befragten Gymnasiallehrkräfte vor allem überforderte Schülerinnen und Schüler, demotivierende Misserfolge und Störungen im Unterricht.
Schwächen auch bei Drittklässlern Grundschüler in BW schaffen Mindeststandards nicht
Bei den bundesweiten Vergleichsarbeiten VERA 3 zeigten auch Drittklässler in Baden-Württemberg deutliche Defizite. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der soziale Hintergrund.
"Die Freigabe der Grundschulempfehlung 2012 war ein Kardinalfehler in der baden-württembergischen Bildungspolitik, der den Abwärtstrend des schulischen Bildungserfolgs in BW deutlich verstärkt hat", erklärte der Landesvorsitzende Ralf Scholl. Die Rückmeldungen der Lehrkräfte seien von entlarvender Eindeutigkeit: "Wenn 80 Prozent der Lehrkräfte die ständigen Misserfolgserlebnisse der überforderten Kinder beklagen und ihre völlige Frustration, wenn sie dann - oft Jahre zu spät - endlich die Schulart wechseln, dann ist das auch eine heftige Anklage dagegen, dass auf diese Weise institutionalisiert Bildungsverlierer produziert werden, obwohl das vermeidbar wäre."
Karin Broszat, Landesvorsitzende des Realschullehrerverbands, sagte laut Mitteilung: "Die Anzahl der durch die Unverbindlichkeit der Schulempfehlung mittlerweile gebrochenen, wenn nicht gar zerbrochenen Schulbiografien ist eklatant. Diese ideologisch fehlleitende Schulpolitik versündigt sich geradezu an ganzen Generationen von Schülerinnen und Schülern und muss ein Ende haben!" Der freie Elternwille hinsichtlich weiterführender Schulwahl sei zur bloßen Beliebigkeit geraten. Verantwortungsbewusste Politik müsse handeln. "Die verbindliche Grundschulempfehlung wird nicht alle, jedoch nachweislich offensichtlich erhebliche Probleme im Bildungssystem kostenneutral und ohne teuer aufgelegte Programme lösen können."
BW-FDP stellt sich auf die Seite der Lehrkräfte
Als Reaktion auf die Umfrage-Ergebnisse sprachen Vertreter der FDP-Fraktion im baden-Württembergischen Landtag von einer "Bildungsideologie mit der Brechstange", die die Landesregierung bisher fahren würde. Der Fraktionsvorsitzende, Hans-Ulrich Rülke (FDP), teilte in einer Pressemitteilung mit, dass die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung zurück müsse. Der bildungspolitische Sprecher der Fraktion, Timm Kern (FDP), verwies auf einen Gesetzentwurf, der den Wünschen der Lehrkräfte entspräche und von der FDP eingebracht wurde.
BW-Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) lehnt eine Rückkehr zur Verbindlichkeit der Empfehlung weiterhin ab. Die Abkehr davon hätte auch zur Erleichterung der Grundschulen geführt. Der Druck der durch die verbindlichen Empfehlungen auf die Schülerinnen und Schüler weitergegeben wurde, sei spürbar gewesen. "Das war wie ein kleines Grundschulabitur", so Schopper.
Auch der bildungspolitische Sprecher der Landtags-Grünen, Thomas Poreski, erklärte: "Wir lehnen die Idee ab, in eine vermeintlich gute alte Zeit zurückzukehren, die in Wirklichkeit nie existiert hat. Statt wie die Verbände in den Rückspiegel zu schauen, sollten wir uns an erfolgversprechenden Modellen orientieren." So hätten die Bundesländer, die im Pisa-Bildungsvergleich vor Baden-Württemberg liegen, keine verbindliche Grundschulempfehlung. Die Grünen seien für eine passgenaue Übergangsberatung, die Eltern und Kinder bei der oft wegweisenden Entscheidung für die weiterführende Schule unterstützt.
Junge Union spricht von "ideologischen Gründen" der Grünen
Die SPD im Landtag ist gegen die Wiedereinführung der verbindlichen Empfehlung. Die CDU schloss sich zuletzt dem grünen Koalitionspartner an, ließ aber eine grundsätzliche Gesprächsbereitschaft erkennen. Der Landesvorsitzende der Jungen Union, Florian Hummel (CDU), forderte mit Blick auf die Umfrageergebnisse, auch die Grünen-Landtagsfraktion solle aufhören, "aus ideologischen Gründen eine Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung zu verhindern". Dies wäre aus seiner Sicht vor allem im Interesse der Schülerinnen und Schüler.
In Baden-Württemberg hat die grün-rote Regierung 2012 die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft. Seitdem können Eltern selbst entscheiden, auf welche Schule ihr Kind gehen soll. Rund 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler, denen die Realschule empfohlen wird, gehen aufs Gymnasium. Kinder mit einer Haupt- oder Werkrealschulempfehlung gehen noch häufiger auf die Realschule. Hier sind es mehr als ein Drittel.