Kein gesetzlicher Anspruch auf Schutz

Flucht ins Frauenhaus: Ortung ausschalten und bloß keinem etwas erzählen

Stand
Autor/in
Susanne Babila

Mehr als 16.400 Frauen in Baden-Württemberg wurden im vergangenen Jahr Opfer von häuslicher Gewalt. Viele suchen in Frauenhäusern Schutz vor den Tätern. Doch es gibt zu wenig Plätze.

Der 25. November ist internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Der Handlungsbedarf ist groß, denn Partnergewalt erreicht in 2023 einen neuen Höchststand in Deutschland.

Sarah Seibold arbeitet als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus in Esslingen. Der Standort wird nicht mitgeteilt - aus Sicherheitsgründen. "Viele von Gewalt betroffene Frauen rufen uns an und suchen einen Platz im Frauenhaus", erzählt Seibold. Aber sie müsse trotz akuter Gefahr häufig Frauen abweisen. Das seien mindestens fünfmal so viele Frauen, wie es Plätze im Frauenhaus gebe.

Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen oder Stalking

Baden-Württemberg verzeichnet im vergangenen Jahr 16.430 Fälle von Partnergewalt und erreicht damit im Fünfjahresvergleich einen neuen Höchststand. So der Sicherheitsbericht von Baden-Württemberg. Knapp drei Viertel dieser Delikte sind Körperverletzungen, aber auch Bedrohungen, Freiheitsberaubungen, Nötigungen und Nachstellungen. Das Problem: viele müssen bei der Suche nach einem Platz im Frauenhaus abgewiesen werden. Denn die Schutzeinrichtungen sind völlig überlastet und einen gesetzlichen Anspruch auf Schutz gibt es bisher nicht.

Die Sozialarbeiterin rät Frauen, die vor ihren Partnern oder Ehemännern fliehen, nur eine kleine, unauffällige Tasche zu packen, unbedingt die Ortung des Handys auszuschalten und keinem - weder Freunden noch Angehörigen - von den Fluchtplänen zu erzählen. "Zu uns kommen Frauen aus allen Schichten, Berufen oder Einkommensklassen und viele von ihnen haben Kinder", sagt Seibold. Die Frauen bräuchten einen Schutzraum und wieder das Gefühl von Sicherheit. "Wir sind Wegbegleiterinnen. Wir unterstützen, wir fangen auf, wir haben eine Ausbildung im Traumabereich, um die Frauen stabilisieren zu können."  

Sarah Seibold arbeitet als Sozialarbeiterin im Frauenhaus des Vereins "Frauen helfen Frauen" in Esslingen.
Sarah Seibold arbeitet als Sozialarbeiterin im Frauenhaus des Vereins "Frauen helfen Frauen" in Esslingen.

Die 35-jährige Sozialpädagogin betreut viele Frauen, auch Marie und ihre zwei Kinder. Sie leben seit einem Jahr im Frauenhaus. Maries Name wurde geändert. Sie muss anonym bleiben, denn ihr Ex-Partner ist sehr gewalttätig und unberechenbar. Marie lernte ihn vor fünf Jahren über ein Datingportal kennen, erzählt sie.

Die erste Zeit war schön und sie zogen zusammen. Doch schon nach wenigen Monaten begann er sie zu kontrollieren. Marie sollte das Haus nicht verlassen und sich nicht mit Freunden treffen. Nie konnte sie es ihm recht machen. Wenn ihre Kinder nicht still waren oder das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch stand, schlug er zu und gab ihr die Schuld für sein Verhalten. "Wenn man dann nicht mehr kann, wenn man nur noch eingeschüchtert ist und Angst hat, dann sitzt man im Prinzip nur noch da wie ein Häufchen Elend und sagt gar nichts mehr. Man lässt dann alles mit sich machen und spürt nichts mehr von sich", sagt Marie. 

 

Eine emporgestreckte Hand mit sich langsam schließender Faust: Ein heimliches Handzeichen, mit dem Opfer häuslicher Gewalt auf sich aufmerksam machen können.
Eine emporgestreckte Hand mit sich langsam schließender Faust: Ein heimliches Handzeichen, mit dem Opfer häuslicher Gewalt auf sich aufmerksam machen können.

Häufige Täter-Opfer-Umkehr: Gewalt wird verharmlost

Marie hat jahrelang nicht über die Misshandlungen gesprochen, die Hämatome vor ihren Angehörigen versteckt und ihrem Arzt die Wahrheit über die Ursache ihrer Verletzungen verschwiegen. Viele von Gewalt betroffene Frauen schämten sich und fühlten sich mitschuldig, erklärt die Berliner Familienrechtsanwältin Asha Hedayati. Und sie würden häufig nicht ernst genommen, auch von Angehörigen, Freunden oder Nachbarn.

Gewalt gegen Frauen werde meist als Privatsache - als Einzelschicksal - gesehen und Femizide häufig verharmlost, auch medial, sagt Hedayati. Trennungstötungen gelten dann als "Ehedrama" oder "Familientragödie". Das habe auch etwas mit unserer Gesellschaft zu tun, mit der immer wiederkehrenden Täter-Opfer-Umkehr und der Verschiebung von Verantwortung.

Wegen Umgangsrecht wieder Kontakt zu gewalttätigem Partner

Nach vier Jahren Gewalt und Demütigungen nahm Marie all ihren Mut zusammen und flüchtete in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit ihren Kindern in ein Frauenhaus. Dort hört man ihr zu. Sie ist zwar noch immer schreckhaft und hat Angstzustände. Aber dank der Mitarbeiterinnen im Frauenhaus hat sie wieder gelernt, an sich und an ihre Kraft zu glauben. Sie findet Trost und wird auch rechtlich beraten. Denn das Sorge- und Umgangsrecht mit den Kindern müsse geklärt werden, erklärt Anwältin Hedayati.

Sie vertritt in Berlin seit über elf Jahren viele Frauen, die wie Marie aufgrund des Umgangsrechts wieder in Kontakt mit dem gewalttätigen Partner kommen müssen. Nicht jede Frau wird von Sozialarbeitenden begleitet. "Das heißt, die Mutter muss zu den Übergaben und auf den Kindesvater treffen", erklärt sie. "Und er nutzt natürlich diese Übergabesituationen dafür, sie zu erniedrigen, sie zu demütigen, sie zu beleidigen. Im schlimmsten Fall hat er natürlich auch die Möglichkeit, ihr körperliche Gewalt anzutun."

Hedayati lehrt an der Alice-Salomon-Hochschule, sie unterrichtet als Gastdozentin Familienrecht sowie Kinder- und Jugendhilferecht. "Es bedarf mehr Präventionsangebote, um ein patriarchales Rollenverständnis zu hinterfragen - und das beginnt bereits im Kindergarten", sagt sie.

Vor einem Jahr wurde ihr Buch "Die stille Gewalt: Wie der Staat Frauen alleinlässt" veröffentlicht. Darin beschreibt Hedayati, wie patriarchal die Strukturen innerhalb von Justiz und Polizei immer noch sind und es Frauen zusätzlich schwer machen, der Partnerschaftsgewalt zu entkommen. "Dass ihnen so etwas gesagt wurde wie 'Machen Sie doch mal eine Eheberatung' oder 'Eheprobleme haben wir ja alle'. Oder ganz klassische Täter-Opfer-Umkehr: 'Warum haben Sie ihm denn die Tür geöffnet? Warum sprechen Sie denn nicht mal mit ihm, wenn er ihnen auflauert?'", sagt sie. Solche permanenten Verantwortungsverschiebungen fänden in allen staatlichen Institutionen statt.

Asha Hedayati arbeitet als Familienrechtsanwältin in Berlin.
Asha Hedayati arbeitet als Familienrechtsanwältin in Berlin.

Gewalt gegen Frauen: Bisher keinen Rechtsanspruch auf Hilfe

In Deutschland fehlen tausende Frauenhausplätze, Beratungsstellen sind chronisch unterfinanziert. Bislang gibt es keinen rechtlichen Anspruch auf Schutz und Hilfe. Meist gilt bei der Aufnahme der Frauen in eine Schutzeinrichtung die Einzelfallprüfung. Das heißt: Vielerorts gelten berufstätige Frauen als Selbstzahlerinnen, aber nicht alle können sich den Aufenthalt über einen längeren Zeitraum leisten.

Empfängerinnen von Sozialleistungen erhalten die Unterkunft im Frauenhaus bezahlt, aber geflüchtete Frauen ohne Aufenthaltstitel können nur in ihrem Bundesland einen Platz finden, denn sie unterliegen der Wohnsitzauflage. Für sie werde die Suche nach einem freien Platz noch wesentlich schwieriger, erklärt Katja Grieger vom Bundesverband für Frauenberatungsstellen und -notrufe. Der von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) vorgelegte Gewalthilfe-Gesetzentwurf würde hier gegensteuern.

"Zum ersten Mal würde die Bundesregierung tatsächlich gesetzlich absichern, dass es diese Unterstützungseinrichtungen überhaupt geben muss", sagt Grieger. Im Moment sind sie komplett freiwillig finanziert, meistens von Ländern und Kommunen. Das Gesetz würde regeln, dass Betroffene ein Recht darauf haben, unterstützt zu werden. Wichtig sei, dass dies barrierefrei sei und einen niederschwelligen Zugang habe und dass es viel mehr Kapazitäten in diesem System gebe, so Grieger.

Wann kommt das Gewalthilfegesetz?

Doch nach dem Aus der Ampelregierung könnte das Gewalthilfegesetz auf der Strecke bleiben, trotz dramatisch steigender Zahlen. Das Gesetz sei enorm wichtig, sagt Familienanwältin Hedayati. Auch wenn es definitiv nicht ausreiche. "Es wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Nur selbst das kriegt ja Deutschland nicht hin", so die Anwältin. Aus ihrer Sicht sei das kein Versagen, sondern eine Entscheidung, die den Tod und die Gesundheitsgefährdung von Frauen in Kauf nehme. Alle wüssten genau, dass die Zahlen seit Jahrzehnten ansteigen. "Da kann man nicht mehr von Fahrlässigkeit sprechen", sagt sie.

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