Rund drei Wochen nach Eröffnung der Bahn-Neubaustrecke legen SWR-Recherchen nahe: Die Filstalbrücke kostet wohl dreimal so viel wie geplant. Zudem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Betrugs.
In Zusammenhang mit dem Bau der Filstalbrücke als Teil der im Dezember eröffneten Neubaustrecke Wendlingen-Ulm der Deutschen Bahn ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen Betrugs. Nach SWR-Informationen werden Mitarbeitende mehrerer am Projekt beteiligter Unternehmen beschuldigt. Es geht um den Verdacht zu hoher Abrechnungen und manipulierter Bautagebücher für die Brücke zwischen Mühlhausen im Täle und Wiesensteig (beide Kreis Göppingen). Unterdessen legen SWR-Recherchen nahe, dass die Filstalbrücke auf der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm wohl mindestens das Dreifache des ursprünglich kalkulierten Preises gekostet hat.
Ermittlungen gegen sechs Beschuldigte aus "nicht-bahneigenen" Betrieben
Die Deutsche Bahn nennt die Brücke "eines der spannendsten Bauwerke des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm", sie sei das "Herzstück der Neubaustrecke" und "Symbol für die Beschleunigung des Schienenverkehrs zwischen Stuttgart und Ulm". Doch die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat einen anderen Blick auf das Projekt: Sie ermittelt gegen sechs Beschuldigte, die für am Projekt beteiligte Unternehmen arbeiten. Das hat die Behörde dem SWR schriftlich bestätigt. Sechs Unternehmen sind demnach betroffen. Um welche Firmen es dabei geht, teilte die Staatsanwaltschaft nicht mit. Nur so viel: Es handele sich um "nicht-bahneigene" Betriebe. Nach SWR-Informationen soll es im vergangenen Februar zu elf Durchsuchungen von Betrieben und Wohnungen in mehreren Städten in Deutschland gekommen sein.
Beim Start der Strecke in den Regelbetrieb am Montag, 12. Dezember, gab es technische Probleme. Ein Zug musste umkehren:
Abrechnungen und Bautagebücher manipuliert?
Bei den Ermittlungen steht laut Staatsanwaltschaft der Verdacht im Raum, "dass mehr Arbeitskräfte und mehr Material abgerechnet wurden, als tatsächlich benötigt wurden." Es geht zudem um die Frage, ob Bautagebücher manipuliert worden sind. Solche Bücher dienen dazu, den Fortschritt von Bauprojekten zu dokumentieren. Sie sind gesetzlich vorgeschrieben. Häufig werden sie digital geführt. Es werden dabei sämtliche relevanten Vorgänge erfasst: welche Gewerke tätig waren, welche Materialien eingesetzt werden, welche Mängel aufgetreten sind, und mehr.
Unternehmen und Bahn wollen sich nicht äußern
Der SWR hat einen an dem Projekt Filstalbrücke beteiligten Großauftragnehmer mit den Recherchen konfrontiert. Das Unternehmen wollte sich nicht äußern und verwies mit Blick auf die vertraglich geregelte Pressearbeit an seinen Auftraggeber, die Deutsche Bahn AG. Diese teilte auf SWR-Anfrage mit, man äußere sich "zu laufenden Ermittlungen" grundsätzlich nicht, betont jedoch, dass es keine Ermittlungen gegen die Deutsche Bahn gebe.
Baukosten offenbar mindestens verdreifacht
Unterdessen legen interne Unterlagen, die dem SWR vorliegen, nahe, dass die Filstalbrücke mindestens das Dreifache des ursprünglich kalkulierten Preises gekostet hat. In einem Schreiben des Eisenbahn-Bundesamtes an das Bundesverkehrsministerium vom 20. März 2020 teilt das Amt mit, dass sich "die Herstellungskosten für das Bauwerk mindestens etwa verdreifachen" würden. Demnach waren zunächst 50,1 Millionen Euro an Baukosten vorgesehen. Zu "Baukostensteigerungen und Bauzeitverzögerungen" hätten dann unter anderem "Störungen im Baugrund" geführt.
Internes Schreiben: Eisenbahn-Amt unter Druck
Aus den Schreiben geht hervor, dass das Eisenbahn-Amt im Frühjahr 2020 in einem Dilemma steckte: Mehrkosten drohten, der geplante Fertigstellungstermin rückte näher. Zudem - so das Schreiben - habe der "Auftragnehmer" Klage eingereicht, um aus dem Vertrag auszusteigen - "wegen der zahl- und weitreichenden Änderungen gegenüber der ursprünglichen Beauftragung".
Es standen nun mehrere Optionen im Raum: Eine davon bestand darin, auf der ursprünglichen Ausschreibung zu bestehen und sich auf eine gerichtliche Auseinandersetzung einzulassen. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, das Projekt neu auszuschreiben, was mit einem "nicht abzuschätzenden Bauende" verbunden gewesen wäre. Oder als weitere Option: mit dem bisherigen Auftragnehmer auf neuer vertraglicher Grundlage weiterzumachen, mit der Verpflichtung, das Bauwerk wie geplant im Dezember 2022 in Betrieb nehmen zu können.
Über die Eröffnung der Neubaustrecke hat der SWR am 9. Dezember berichtet. Ein Rückblick:
Neuer Vertrag mit Gewinnzuschlag
Deutsche Bahn und Auftragnehmer verständigten sich auf eine Lösung, eine so genannten Cost-Plus-Fixed-Fee-Regelung (CPFF), die das Eisenbahn-Bundesamt dem Bundesverkehrsministerium vorlegte. Diese sah vor: Der bisherige Auftragnehmer bleibt, legt seine Kalkulation offen und garantiert die Fertigstellung zum Dezember 2022. Im Gegenzug erhält dieser einen Gewinnzuschlag. Allein dafür waren zu diesem Zeitpunkt zehn Millionen Euro vorgesehen.
Im Interview mit dem SWR erklärte der Bauingenieur Prof. Christian Meysenburg, der an der School of Engineering and Architecture an der Hochschule Heidelberg lehrt: "In einem normalen Bauvertrag trägt der Auftragnehmer das Risiko, dass er seine Preise richtig kalkuliert hat. Und in dieser Cost-Plus-Fee-Konstruktion ist es eben so, dass die Kosten weitergereicht werden und das Risiko, welche Leistungen dann erforderlich werden und dann auch mit den Kosten vergütet werden müssen, zum Großteil natürlich beim Auftraggeber liegt." Angesichts der Situation, in der sich die Deutsche Bahn befand, hält er diese Regelung jedoch für "die einzige Lösung, den Fertigstellungstermin einzuhalten".
Insider: Getroffene Regelung könnte Betrug begünstigt haben
Ein Insider äußerte gegenüber dem SWR die Vermutung, die getroffene CPFF-Regelung könne dazu beigetragen haben, dass mehr Arbeitskräfte und Material abgerechnet worden sein könnten als tatsächlich benötigt wurden. Auf SWR-Anfrage, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen der CPFF-Regelung und mutmaßlichen Betrugshandlungen, teilt die Deutsche Bahn mit: "Zu Vertragsinhalten mit Auftragnehmern äußert sich die Deutsche Bahn grundsätzlich nicht."
Die Gesamtkosten für die Brücke wurden mit bis zu 161 Millionen Euro kalkuliert. Dafür benötige man zusätzlich 94,1 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt - also Steuergeld. Laut Eisenbahn-Bundesamt war dies zu diesem Zeitpunkt die kostengünstigste Variante. Das Bundesverkehrsministerium stimmte schließlich am 7. April 2020 zu.
Was die Brücke am Ende wirklich gekostet hat, bleibt unklar. Das Bundesverkehrsministerium äußert sich dazu auf SWR-Anfrage nicht und verweist auf die Deutsche Bahn. Diese teilt mit, die Schlussabrechnung für die Filstalbrücke liege noch nicht vor. Die Baukosten seien "im vom Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG genehmigten Gesamtwertumfang der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm in Höhe von 3,985 Milliarden Euro enthalten; dieser ist weiterhin stabil."
Landespolitik will schnelle Aufklärung um möglichen Betrug
Das baden-württembergische Verkehrsministerium nimmt die Ermittlungen nach eigenen Angaben besorgt zur Kenntnis. Es sei gut und im Sinne des Landes, dass die Vorwürfe nun zügig von der Staatsanwaltschaft geprüft und aufgeklärt würden.
Auch alle Oppositionsfraktionen sprechen von erschreckenden Ermittlungsergebnissen, die schonungslose Aufklärung erforderten. Für die SPD zeige der Vorgang, dass es trotz konkreter Ausschreibungen noch Hintertürchen gebe, um Kosten betrügerisch zu manipulieren. Das dürfe nicht am Steuerzahler hängen bleiben. Von der FDP heißt es, dass bei Großprojekten wie der Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm in Zukunft schneller und ordentlicher geplant und abgerechnet werden müsse.
Die Deutsche Bahn und deren Aufsichtsrat müssten erklären, inwieweit Kontrollmechanismen versagt hätten. Die AfD fordert in dem Zusammenhang, Haushaltsuntreue als Straftatbestand zu schaffen und Politiker haften zu lassen.