Das Bildungssystem in BW hat in den letzten zehn Jahren bundesweit am meisten verloren. Aber: Es tut sich was. Über hausgemachte Fehler der Politik und neue Herausforderungen.
Wie viel trägt das Bildungssystem in Baden-Württemberg dazu bei, dass Wirtschaft und Wohlstand wachsen? Dieser Frage geht Jahr für Jahr der sogenannte Bildungsmonitor nach, der vom Institut der Deutschen Wirtschaft erstellt wird. Verglichen werden die Bildungssysteme aller Bundesländer.
Im Zehn-Jahres-Vergleich von 2013 bis 2023 belegt Baden-Württemberg den 16. Platz, das heißt, das Land hat in diesen zehn Jahren am deutlichsten von allen Bundesländern verloren. Im Vergleich der Länder nur des vergangenen Schuljahres hat sich das Land aber vom 6. auf den 5. Platz verbessert.
- Wo BW im Zehn-Jahres-Vergleich besonders schlecht abschneidet
- Die größten Fehler der Politik
- Die größten Herausforderungen in den letzten zehn Jahren
- Was sich im Bildungssystem im Land ändern muss
- Welche Konsequenzen die Politik gezogen hat - Stichwort: BISS
- Im aktuellen Ein-Jahres-Vergleich hat sich BW auf Platz fünf verbessert
Wo BW im Zehn-Jahres-Vergleich besonders schlecht abschneidet
Klickt man den Bildungsmonitor an, steht Baden-Württemberg insgesamt am Tabellenende. Die rote Laterne gibt es unter anderem im Bereich Schulqualität. Dabei geht es darum, wie sich die durchschnittlichen Kompetenzen der Viertklässler und Viertklässlerinnen in den Bereichen Lesen, Leseverständnis und Mathematik entwickelt haben. Die IQB-Studie von 2021 zeigt, dass viele Kinder die Mindeststandards nicht erreichen.
Auch bei den Ausgaben für Bildung hat sich Baden-Württemberg in den vergangenen zehn Jahren verschlechtert. Zwar belegt der Bildungsmonitor, dass die Investitionen pro Grundschüler gestiegen sind, im Vergleich zu den Gesamtausgaben pro Einwohner schneidet das Land aber nicht gut ab. Minuspunkte gibt es auch bei der Internationalisierung, das heißt, es studieren wenig internationale Studierende im Land. Rückschritte gab es außerdem bei der Integration und damit bei der Förderung ausländischer Kinder und Jugendlicher.
Die größten bildungspolitischen Fehler der Landespolitik
Experten sind sich einig, dass der Lehrermangel eines der größten Versäumnisse der Politik ist. Corinna Blume, Vorsitzende der Landesfachgruppe Grundschulen bei der Bildungsgewerkschaft GEW, fordert von der grün-schwarzen Landesregierung deshalb, die Zahl der Studienplätze zu erhöhen. Ihrer Meinung nach hätte die Regierung schon vor zehn Jahren die Besoldung A13 einführen müssen, um das Lehramt an Grundschulen attraktiver zu machen. Auch der Landesverband Bildung und Erziehung (VBE) beklagt, dass die Grundschullehrkräfte weniger als alle anderen Lehrkräfte verdienten. Sie hätten außerdem das höchste Deputat, unterrichteten also auch mehr als andere.
Der VBE-Landeschef Gerhard Brand kritisiert außerdem, dass es immer noch mehr Bewerber für das Grundschullehramt als Studienplätze gibt. Das grün-geführte Kultusministerium sage zwar, man habe schon 200 neue Plätze geschaffen, aber das reiche bei Weitem nicht, sagte Brand dem SWR. In puncto Ausgaben pro Grundschülerin und Grundschüler investierten alle Bundesländer außer Nordrhein-Westfalen und Bremen mehr als Baden-Württemberg.
Für die Mitautorin des Bildungsmonitors, Christina Anger, vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) könnten zudem die Studiengebühren für Nicht-EU-Ausländer ein Standortnachteil sein. Baden-Württemberg ist das einzige Bundesland, das solche Gebühren erhebt und hat die wenigsten internationalen Studentinnen und Studenten. Mit Blick auf die Fachkräftesicherung könne das langfristig Nachteile haben, da viele Bildungsausländer an ihrem Studienort blieben, so Anger.
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Die größten Herausforderungen in den letzten zehn Jahren
Der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund hat zwischen 2013 und 2023 bundesweit zugenommen, besonders stark aber in Baden-Württemberg. Die Mitautorin des Bildungsmonitors, Christina Anger, verweist auf den IQB-Bildungstrend 2021, der auch untersucht hat, wie hoch der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den 4. Klassen vor zehn Jahren war im Vergleich zu heute. In Baden-Württemberg seien die Zahlen in den letzten Jahren um 20 Prozent gestiegen, so Anger. In keinem anderen Bundesland sei die Veränderung in der Zeit so groß gewesen, auch wenn die Stadtstaaten Berlin und Bremen ähnliche oder auch schon vorher höhere Zahlen hatten. Möglicherweise habe die Politik darauf nicht schnell genug reagiert, so Anger.
Eine veränderte, heterogene Schülerschaft gehört auch für Corinna Blume, die lange Jahre an einer Grundschule in Karlsruhe unterrichtet hat, zu einer der größten Herausforderungen für das Bildungssystem. Seit 2015 etwa habe die Zahl von eingeschulten Kindern, die kein Deutsch können, immer mehr zugenommen. Die 65-Jährige erzählt von einer Kollegin, in deren Klasse elf von 24 Kindern kein oder nur wenig deutsch sprechen konnten. Darunter seien nicht nur Kinder von Migranten oder geflüchteten Menschen, sondern auch Kinder aus deutschen Familien gewesen, so Blume. Für sie ist klar, dass man eine gute personelle und finanzielle Ausstattung brauche, um den Kindern und den Anforderungen gerecht werden zu können.
Eine weitere große Veränderung hat auch die Corona-Pandemie mit sich gebracht. Diese habe viele Kinder zurückgeworfen, und zwar in allen Bundesländern, sagt Studienautorin Anger. Eine Folge war unter anderem, dass in Baden-Württemberg viele Viertklässler beim Lesen noch weiter abgerutscht sind.
Welche Veränderungen Experten im Bildungssystem in BW fordern
Auf das schlechte Abschneiden beim Lesen der Viertklässlerinnen und Viertklässler muss nach Ansicht von Studienautorin Anger vor allem mit einer frühen Sprachförderung und mit mehr Personal reagiert werden. Außerdem braucht es ihrer Meinung nach mehr multiprofessionelle Teams und damit mehr Sozialarbeiter, die lernschwache Kinder möglichst gut förderten und integrierten. Was die Corona-Effekte anbelange, so Anger, sei auch eine systematische Nachförderung wichtig. Allerdings sei das in allen Bundesländern nicht gemacht worden. Oft habe es keine Bestandsanalyse dazu gegeben, wie weit Kinder seien.
Der Verband Bildung und Erziehung im Land (VBE) will darüber hinaus ein verpflichtendes letztes Kindergartenjahr in Baden-Württemberg und eine engere Zusammenarbeit zwischen Kindergärten und Grundschulen. Auch Corinna Blume von der GEW sieht hier Nachholbedarf. In ländlichen Regionen beispielsweise hätten Grundschullehrkräfte eine Stunde pro Woche Zeit, um Kindergartenkinder auf die Schule vorzubereiten. Allerdings müsse eine Kollegin manchmal bis zu sechs Kindergärten gleichzeitig betreuen. Das bedeute ein großes Maß an Mehrarbeit oft in der Freizeit, da ja der normale Unterricht parallel weiterlaufe.
Welche Lehren die Politik in BW bereits gezogen hat
Der Stadtstaat Hamburg hat in der aktuellen IQB-Studie zu den Kompetenzen der 4. Klassen in Lesen, Mathematik und Leseverständnis nicht so starke Einbrüche wie die anderen Bundesländer. An den Grundschulen in der Hansestadt wird seit Jahren das Lesen systematisch mit dem Programm BISS Transfer gefördert, das heißt, die Lesefertigkeiten und Lesefähigkeiten der Schülerinnen und Schüler werden gezielt geschult. In Baden-Württemberg ist BISS Transfer ab dem neuen Schuljahr in den Klassen eins bis vier verpflichtend. Pro Klasse und Woche stehen dann zwei mal zwanzig Minuten Lesen fest im Unterrichtsplan. Das Lesen kann zum Beispiel in Schülertandems oder mit Lesepaten geübt werden. Der VBE-Landesverband begrüßt das Konzept zwar grundsätzlich, kritisiert aber, dass BISS ohne zusätzliche Stunden umgesetzt wird. Dann fehle die Zeit in anderen Bereichen wie Grammatik, Satzbau oder für Schreibübungen.
Außerdem will Baden-Württemberg laut Anger ähnlich wie die Hansestadt mehr Daten erheben und schauen, wo gezielt gefördert werden muss. In Hamburg werden demnach die Grundschüler im Durchschnitt alle zwei Jahre getestet. Schulen mit größerem Förderungsbedarf bekämen mehr Personal oder auch mehr Geld für Nachhilfe. Auch vor der ersten Klasse wird die Sprachfähigkeit der Kinder getestet.
Im aktuellen Ein-Jahres-Vergleich hat sich BW auf Platz fünf verbessert
Beim aktuellen Bildungsmonitor 2023, der den Ist-Zustand misst, hat sich Baden-Württemberg vom sechsten auf den fünften Platz verbessert. Fortschritte gab es unter anderem in den Bereichen Schulqualität, also bei den Fähigkeiten beim Lesen und in Mathematik in den 4. Klassen. Auch bei der Bildungsarmut konnte sich das Land verbessern. Bei den Betreuungsbedingungen an Hochschulen und bei der Digitalisierung liegt Baden-Württemberg weit vorne.
Bildungsexpertin Anger sieht Baden-Württemberg auf einem "ganz guten Platz". Das Land schneide deutlich besser ab als andere Bundesländer, obwohl die Herausforderungen größer geworden seien, auch in anderen Bundesländern. Also müsse auch vieles richtig gelaufen sein und es gebe neue Bildungsprogramme im neuen Schuljahr. Jetzt müsse man zwei bis drei Jahre Geduld haben, bis das Ganze Früchte trage.
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