Ärger über Kinderlärm vom Bolzplatz, von der Kita oder vom Spielplatz - in Lahr klagen Anwohner sogar vor Gericht. Keine Einzelfälle in BW. Werden Kinder immer öfter vertrieben?
Die Bedürfnisse, Rechte und Probleme von Kindern und Jugendlichen werden viel zu oft übersehen und vergessen. Das war eine der Botschaften der Sondersendung "KINDERstören" mit Carolin Kebekus, die kürzlich zur besten Sendezeit in der ARD lief. Und auch viele Nutzerinnen und Nutzer von SWR Aktuell haben den Eindruck, dass die Toleranz gegenüber Kindern in der Gesellschaft sinkt.
Zu ihnen gehört auch Andreas K. aus Pfinztal (Kreis Karlsruhe). Der Familienvater Ende 40 staunte nicht schlecht, als sein Sohn vor einigen Jahren am örtlichen Bolzplatz vor verschlossenem Tor gestanden sei - das hatte offenbar ein genervter Anwohner auf eigene Faust mit einem Fahrradschloss abgesperrt. Ein Vater der Fußballfreunde habe es kurzerhand mit einem Bolzenschneider entfernt.
Streit um Lärm auf Bolzplatz in Lahr bewegt viele
Wie viele andere hat auch der Familienvater von zwei zehn und 15 Jahre alten Kindern mitbekommen, was in Lahr (Ortenaukreis) passiert. Dort klagen aktuell Anwohner vor Gericht, weil sie der Lärm von einem Bolzplatz stört. Die Anwohner wollen erreichen, dass der Platz um 16:30 Uhr geschlossen wird und nicht wie bisher um 19 Uhr.
"Das was in Lahr passiert, kann ich eins zu eins bei uns hier in Pfinztal bestätigen", so Andreas K. Auf einem Sportplatz seien ein Basketballkorb abgehängt und Spielzeiten verkürzt worden. Ein anderer Bolzplatz sei zwar an Werktagen bis 20 Uhr geöffnet, samstags aber nur bis 17 Uhr und sonntags gar nicht. Gerade die schlechten Öffnungszeiten am Wochenende kritisiert Andreas K., denn da hätten die Kinder auch mal Zeit und seien nicht mit Schule oder Hausaufgaben beschäftigt. "Und das in der heutigen Zeit, wo man ja eigentlich froh ist, wenn die Kinder sich bewegen."
Neben Andreas K. haben viele weitere Menschen den Fall um den Lahrer Bolzplatz auf Instagram bei SWR Aktuell kommentiert. Eine Nutzerin schreibt: "Deutscher wird's heute nicht mehr. Kinder, die draußen spielen, sind ein Fall für's Gericht." Jemand anderes schreibt: "Der eigentliche Skandal ist doch, dass der Platz am Wochenende geschlossen ist. Dagegen sollten die Eltern der Kids mal klagen."
Eine andere Nutzerin stellt die Frage, die sich viele unter dem Post stellen: "Wer war zuerst da? Die Schule mit dem Bolzplatz oder die Kläger? Ich würde sagen, sie haben sich den falschen Ort zum Wohnen ausgesucht."
Bolzplatz für Freizeit der Kinder wichtig
Andreas K. aus Pfinztal sieht noch einen weiteren Aspekt - Fußball verbinde, sagt er. Er trainiert seit acht Jahren Jugendliche im Fußballverein. "Ich habe fünf oder sechs Nationen bei mir in der Mannschaft. Das ist Integration, das ist eine Chance, wo Kinder zusammenkommen und spielen." Das Training sei jedoch nur zweimal pro Woche auf dem Gelände eines Sportvereins, alles weitere geschehe in der Freizeit der Kinder - auf dem Bolzplatz.
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Andreas K. wünscht sich, dass es mehr Toleranz gegenüber Kindern und Jugendlichen gäbe. Zu gewöhnlichen Zeiten solle ihr Lärm akzeptiert werden, "das muss man aushalten", findet er. Verständnis hat der Familienvater für Anwohnerinnen und Anwohner dann, wenn sich ältere Jugendliche treffen und noch nach 22 Uhr laut seien. Das verstehe er, wenn man sage, "jetzt ist es auch mal gut".
Landesfamilienrat: Druck nimmt zu
Dass die Toleranz gegenüber Kindern und Jugendlichen nachgelassen hat, nimmt auch Petra Pfendtner vom Landesfamilienrat Baden-Württemberg wahr. "Ich glaube, dass es schon immer schwierig war, Plätze für Kinder und Jugendliche im öffentlichen Raum zu behaupten. Aber ich sehe auch, dass der Druck gegenwärtig zunimmt", sagt sie.
Schon vor zwanzig Jahren hätten sich Anwohner und Anwohnerinnen von Jugendzentren über Lärm beschwert, meint die Referentin. "Aber heute bauen Leute Häuser in der Nähe von Jugendeinrichtungen und beschweren sich dann, wenn ein Ball auf dem Hof ‚bonk-bonk-bonk‘ macht. Das ist für mich Lärm, der zum Leben dazu gehört." Die Selbstbezogenheit der Menschen im Land habe zugenommen, folgert sie.
Was die Gründe dafür sind? "Die Gesellschaft als Ganze steht unter Druck. Diverse Studien zeigen, dass sich heute auch Menschen unsicher fühlen, die sich in einer gesicherten Lebenssituation befinden", sagt Pfendtner. Sie könne sich vorstellen, dass die Menschen deshalb zunehmend weniger Verständnis und Anteilnahme für andere aufbringen könnten.
In anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Spanien freuten sich die Leute über Kinder - in Deutschland würden sie dagegen eher als zusätzliche Lärmbelastung wahrgenommen. "Interessanterweise sind die Leute eher bereit, sich mit Lärm von einer Straße zu arrangieren als von einem Spielplatz", schildert die Referentin ihre Erfahrung. Auch gebe es etwa in Frankreich mehr Plätze mit Sitzgelegenheiten und Tischen zum Aufenthalt, auch an zentral gelegenen Orten. "Also genau dort, wo bei uns eigentlich nur teure Cafés geduldet werden", sagt sie. Gerade in Großstädten, wo es Probleme mit Wohnungslosigkeit gebe, fehlten solche Orte.
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Gibt es im Land also insgesamt zu wenige Orte für Kinder und Jugendliche? Ja und nein, meint die Referentin. Zwar gebe es genügend Spielplätze für kleine Kinder, doch geeignete Treffpunkte für Jugendliche fehlten in vielen Städten. "Dort wo deswegen Konflikte auftreten, hilft es meiner Erfahrung nach, wenn Kommunen den Jugendlichen die Möglichkeit geben, selbst Verantwortung zu übernehmen für ihren Treffpunkt, zum Beispiel im Rahmen von Jugendräten."
Stadtjugendausschuss Karlsruhe sieht keinen Trend zur Beschwerde
Wie der Stadtjugendausschuss Karlsruhe dem SWR auf Anfrage mitteilt, ist die Anzahl der Angebote für Kinder und Jugendliche in Karlsruhe in den vergangenen Jahren auf einem etwa gleichen Niveau geblieben. In der Stadt gebe es derzeit insgesamt 325 öffentliche Kinderspielplätze, darunter 62 Bolzplätze, 18 Ballspielflächen, sieben Skateanlagen sowie zahlreiche Volleyball-, Basketball- und Streetballfelder. Darüber hinaus stehe ein Angebot von 19 Kinder- und Jugendhäusern zur Verfügung, so der Dachverband, unter dem in Karlsruhe die Jugendverbände und Träger der Offenen Kinder- und Jugendarbeit organisiert sind.
Die überwiegende Zahl an öffentlichen Plätzen für Kinder- und Jugendliche werde akzeptiert und intensiv genutzt. Es sei auch die Grundhaltung der Stadt, dass es die Plätze brauche und Kinderlärm keine Ruhestörung darstelle. Beschwerden gebe es nur in geringer Anzahl - in der Regel gingen diese von Einzelnen aus. Von einem Trend zu verstärkten Beschwerden könne also nicht die Rede sein. Der Stadtjugendausschuss merkt jedoch an: "In Einzelfällen stellten sich die Beschwerden als so ausdauernd und hartnäckig heraus, dass es zur Schließung von Anlagen gekommen ist."
Bei der letzten Erhebung zum 31. Dezember 2023 lebten in Karlsruhe laut Stadtjugendausschuss insgesamt 70.761 Menschen zwischen sechs und 25 Jahren. Etwas mehr als die Hälfte davon waren zwischen sechs und 20 Jahre alt. Der Anteil junger Menschen in der Stadt entspricht knapp einem Viertel der Gesamtbevölkerung.
Stadt Stuttgart: Entwicklung bei Beschwerden unbekannt
Zum Vergleich: In Stuttgart lebten zum 30. Juni 2024 nach Auskunft der Stadt 63.487 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 17 Jahren. Insgesamt waren es zum Stichtag 95.715 Kinder und Jugendliche in der Landeshauptstadt. Diesen stünden nach Angaben der Stadt neben 475 Spielflächen und 124 Bolzplätzen im ganzen Stadtgebiet weitere Bewegungsmöglichkeiten wie beispielsweise Tischtennisplatten, Outdoor-Fitness-, Skate- und Parkour-Anlagen zur Verfügung. Zudem gebe es in Stuttgart 41 Jugendhäuser unter städtischer Trägerschaft.
Ob die Zahl der Beschwerden etwa wegen Kinderlärm in Stuttgart zugenommen hat, könne die Stadt nicht sagen, so eine Sprecherin gegenüber dem SWR. Denn weder beim städtischen Vollzugsdienst noch beim Polizeirevier lägen hierzu differenzierte Statistiken vor.
Verdichtung und Homeoffice sorgen für Konflikte
Eine mögliche Ursache für Konflikte sieht die Kinderbeauftragte der Stadt Stuttgart, Maria Haller-Kindler, jedoch in der Verdichtung in der Stadt. Aufgrund des zunehmenden Flächendrucks konkurrierten Nutzungsformen von öffentlichen Flächen vor allem in der Innenstadt stärker miteinander. "Ein Paradebeispiel hierfür ist der Fall der Johann-Friedrich-von-Cotta-Schule, auf deren Sportfläche junge Streetball-Spielerinnen und -Spieler sich regelmäßig zum Kicken trafen", so Haller-Kindler. Durch den Bau neuer Wohnungen sei bei der Schule in Stuttgart-Ost die Bebauung näher an das Schulgelände herangerückt. In der Folge hätten sich Anwohnerinnen und Anwohner über den Lärm der Streetball-Spielerinnen und Spieler beschwert. Dies habe zur Schließung des Sportplatzes für nicht-schulische Zwecke geführt, berichtet die Kinderbeauftragte.
Einen weiteren möglichen Faktor für tendenziell zunehmende Beschwerden identifiziert sie in der Entwicklung, dass immer mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. "Die Bedürfnisse einer Person im Home Office und die von spielenden Kindern und Jugendlichen in ihrem Wohnviertel passen oft leider nicht zusammen", so Haller-Kindler.
Kinderbeauftragte: Eine einzige Klage kann zu Schließung führen
Deshalb der gesamten Gesellschaft eine sinkende Toleranz für Kinder und Jugendliche zu attestieren, geht ihr aber zu weit. Sie betont, dass es für die Schließung einer Fläche nur einer einzigen juristischen Klage bedürfe, wenn die Bespielung rechtlich nicht abgesichert sei - so wie im Fall der Sportfläche der Johann-Friedrich-von-Cotta-Schule. Aus solchen Fällen werde oft abgeleitet, wie jugendfreundlich die Anwohnerinnen und Anwohner im Allgemeinen seien oder nicht. "Dabei handelt es sich unter Umständen um eine einzige Person", sagt die Kinderbeauftragte. So könne möglicherweise auch ein verzerrtes Bild entstehen.
Auch das Stuttgarter Schulverwaltungsamt hat laut Stadt generell nicht den Eindruck, dass die Gesellschaft Kindern und Jugendlichen zunehmend weniger tolerant begegnet. Vielmehr herrsche aufgrund fehlender Ressourcen auf öffentlichen Anlagen ein gewisser Konkurrenzdruck, weshalb Kinder und Jugendliche zunehmend auf Anlagen auswichen, die zum Spielen nur eingeschränkt nutzbar seien, zum Beispiel aufgrund einer nahen Wohnbebauung.
So geht die Verwaltung mit Lärmbeschwerden um
Grundsätzlich gehe das Schulverwaltungsamt allen Beschwerden, die die Schulliegenschaft betreffen, nach. Bei Beschwerden wegen Lärm werde geprüft, ob es sich bei der Quelle tatsächlich um Kinder und Jugendliche handele. Falls ja, komme es nach derzeitiger Rechtslage darauf an, ob diese jünger oder älter sind als 14 Jahre: Sind sie jünger als 14, sei der Lärm demnach als "sozialadäquat" einzustufen. "Stammt der Lärm aber von Kindern und Jugendlichen von 14 Jahren oder älter, muss den Lärmbeschwerden laut dem Bundesimmissionsschutzgesetz in jedem Fall nachgegangen werden", so die Stadt. Das Schulverwaltungsamt bemühe sich dann in der Regel, entweder die Nutzungszeiten mit allen Akteuren einvernehmlich abzustimmen oder den Kindern und Jugendlichen alternative Anlagen zur Verfügung zu stellen.