Auf den Zug warten, im Wartezimmer beim Arzt sitzen: Viele versuchen, die Wartezeit irgendwie zu nutzen. Dabei ist Warten an sich nichts Schlechtes, meint Philosoph Timo Reuter.
SWR1: Warum fällt es uns so schwer, warten zu müssen?
Timo Reuter: Wenn wir warten müssen, spüren wir die Ohnmacht, wir sind höheren Mächten oder den Launen einer Busfahrerin ausgeliefert. Aber das große Versprechen unserer Zeit ist die Selbstbestimmung. Das kollidiert natürlich. Zudem bedeutet warten auch Stillstand und vermeintlich bedeutet es auch verlorene Zeit.
SWR1: Warten als verlorene Zeit?
Reuter: Ich würde das anders sehen, aber viele empfinden es als verlorene Zeit, weil wir in einer beschleunigten Welt leben. Wir wollen immer mehr erleben und erledigen. Und da passt halt der Stillstand erstmal vermeintlich gar nicht hinein.
SWR1: Den Stillstand kann man ja aber auch für vermeintlich Sinnvolles nutzen. Wenn ich an einer Supermarktkasse anstehe und warte, kann ich mein Handy herausholen und währenddessen ein paar Mails löschen oder Termine anschauen.
Reuter: Absolut! Und ich kann das gut verstehen. Ich mache das auch oft so. Aber vielleicht wäre es auch mal an der Zeit, das mal anders zu machen.
Es ist die Idee, die ich auch in meinem Buch entwickele. Wir leben in einer absurden Situation. Zum einen wird die Sehnsucht nach Langsamkeit und innezuhalten immer größer. Doch gerade dann, wenn sich beim Warten die Gelegenheit dazu ergibt, dann steigt die Wut in uns auf, wir wollen immer mehr erledigen. Und da würde ich sagen, vielleicht geht es auch anders.
Gesellschaft Warten – Warum es nervt, aber wichtig ist
Zeit gilt als Ressource, die wir effizient nutzen müssen. Wer wartet, verschwendet also Zeit. Dabei wissen Mönche und Künstlerinnen: Man muss auch dasitzen und abwarten können. Dann entsteht Großes.
SWR1: Was könnte man da anderes machen, außer sich langweilen?
Reuter: Die Langeweile ist auch das Tor zur Muse. Man kann zum Beispiel mit anderen ins Gespräch kommen. Wenn es jemand ganz eilig hat, kann die Person vorgelassen werden, vielleicht machen andere das auch und es entsteht ein Moment der Solidarität und man lächelt sich an.
Timo Reuter: Absurdität des Wartens
Ich will mal was zu dieser Absurdität sagen: Wir leben doppelt so lange wie vor 150 Jahren, und wir arbeiten pro Woche ungefähr die Hälfte. Trotzdem scheinen wir gar keine Zeit mehr zu haben. Es wird immer weniger. Und ich würde sagen, beim Warten wäre eben auch mal die Zeit, nichts zu tun. Es ist laut Oscar Wilde die höchste Kunst. Oder zumindest Zeit haben für Begegnung. Das ist ja auch etwas, wonach wir uns durchaus auch sehnen.
SWR1: Warten müssen hat auch mit einem Machtgefälle zu tun. Man ist ausgeliefert, weil man es nicht in der Hand hat – oder hat man es doch in der Hand?
Reuter: Es kommt darauf an, weil warten ist nicht gleich warten. Muss jemand fünf Minuten an der Bushaltestelle warten oder vielleicht auf ein Spenderorgan oder eine Aufenthaltsgenehmigung? Das Warten hat sehr unterschiedliche Dimensionen.
Warten ist eine Frage von Macht und Privilegien
Reuter: Es gibt auch noch die Dimension der Macht, also wer auf wen warten muss, das ist selten ein Produkt des Zufalls. Aber es ist oft eine Frage von Macht und von Privilegien. Wir sehen das in der Politik oder in Unternehmen. Die Chefin kann ihre Angestellten hinhalten, aber umgekehrt droht eben die Kündigung. Und da ist es umso schwieriger, dann aufzustehen und zu sagen, ich warte jetzt nicht mehr.
Es gibt auch strukturelle Faktoren, die eben Ungleichheit bedingt und das sieht man auch beim Warten. Wem werden diese langen Wartezeiten, zum Beispiel vor den Tafeln, auf dem Arbeitsamt, auf der Ausländerbehörde zugemutet? Das sind oft die, die sowieso schon marginalisiert sind. Und wer viel Geld hat, muss sich in der Warteschlange nicht vordrängen, sondern bekommt Priority Check-In.
Einfach mal im Urlaub warten
SWR1: Und Sie sagen trotzdem, das kann eine Chance sein, die wir ergreifen müssen. Würde sich das demnächst im Urlaub anbieten?
Reuter: Im Urlaub ist es wahrscheinlicher, dass es klappen kann, dass wir einfach mal nur warten. Wir haben weniger Terminstress. Ich bin auch oft auf Reisen, und auch dort gelingt es erst, wenn man es schafft, sich auch auf das Unfertige einzulassen. Wenn jeder sagt, ich habe keine Zeit, ich stehe hier schon seit zehn Minuten und warte, dann setzt sich genau das fort, was auch im Alltag passiert.
Wenn man es aber schafft, Umwege in Kauf zu nehmen und auch mal zu warten, dann warten da auch tatsächlich die unverhofften Begegnungen und die ungewöhnlichen Geschichten.
"Warten" langsam in den Alltag einbinden: Tipps von Timo Reuter
Was im Urlaub funktioniert, funktioniert auch im Alltag, es ist eben nur ein bisschen schwieriger. Wer fünf Minuten an der Bushaltestelle hat, kann zum Beispiel Folgendes probieren:
- Montags bleibt das Smartphone in der Tasche
- Dienstags laufen anstatt den Bus zu nehmen
- Mittwochs auf den eigenen Atem achten
- Donnerstags, das ist die Königsdisziplin, fünf Minuten nichts tun.
Langsam anfangen, um sich eben auch nicht zu überfordern.
Das Interview führte SWR1 Moderator Veit Berthold.
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