Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel galt lange als mächtigste Frau der Welt. Als erste Frau im Bundeskanzleramt regierte sie 16 Jahre lang. Am 17. Juli 2024 wird sie 70 Jahre alt.
Wir haben mit Journalist und Merkel-Biograf Ralph Bollmann hinter Angela Merkels Fassade geblickt und über ihre politischen Entscheidungen gesprochen.
Begegnungen mit Merkel
SWR1: Wenn sie an Begegnungen mit Angela Merkel denken, was fällt Ihnen da zuerst ein?
Ralph Bollmann: (lacht) Der erste Gedanke sind tatsächlich immer diese Hintergrundgespräche, wenn man mit ihr auf Reisen war. Diese intime Situation, wie sie in der Strickjacke in diesem kleinen Besprechungsraum im Regierungsflieger sitzt, weil ich tatsächlich schon fand, dass man ihr da so nahekam wie wenig anderen Politikern. Olaf Scholz, würde ich sagen, ist in diesen Situationen deutlich zugeknöpfter als sie.
Selbstinszenierung Merkels
SWR1: Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen hat über Merkel geschrieben, man konnte sie sich beim Kuchen backen, Kartoffel schälen und Tatort gucken vorstellen. Sie erwähnen die Strickjacke, also in ihrer Normalität liegt da das Besondere.
Bollmann: Ich glaube schon, dass diese Normalität und diese Bodenständigkeit ein Qualitätsmerkmal von ihr waren. Wobei ja das Lustige ist, dass sie tatsächlich die erste Regierungschefin in Deutschland war, die aus einer Akademikerfamilie stammte. Alle ihre Vorgänger hatten nicht akademische Elternhäuser. Das ist nur komischerweise niemandem aufgefallen (...), weil sie gerade auch durch ihren brandenburgischen Dialekt immer den Eindruck erweckt hat, als sei sie gar nicht die Intellektuelle, die sie vielleicht ein Stück weit war.
SWR1: Ist das dann auch ein Stück Inszenierung?
Bollmann: Sie hat es schon bewusst gemacht und sich da auch nicht verstellt. Sie kann sich auch schlecht verstellen, das war teilweise auch ein Problem von ihr. Schweigen konnte sie sehr gut, das hatte sie in DDR-Zeiten natürlich gelernt, aber irgendwas spielen, was sie nicht ist, das fiel ihr schwer.
Aber sie hat natürlich diese Seiten ihrer Persönlichkeit auch ganz bewusst hervorgekehrt, dass sie über Pflaumenkuchen oder Kartoffelsuppe in der Öffentlichkeit gesprochen hat, war natürlich volle Absicht.
Merkels Rückzug aus der Politik
SWR1: Merkel hat ja gesagt, sie zieht sich komplett aus der Politik zurück und ist auch dabei geblieben. Das verwundert sie wahrscheinlich nicht, oder?
Bollmann: Nein, das hatte ich immer erwartet. Sie wollte wirklich die erste Kanzlerin sein, die aus freien Stücken einen Schlussstrich zieht.
In der Zeit, als sie CDU-Generalsekretärin unter Wolfgang Schäuble war, hat sie sehr genervt, dass Helmut Kohl nicht loslassen konnte. Als Ehrenvorsitzender war er in allen Sitzungen dabei, hat zwar nichts gesagt, aber allein durch seine Grimassen alles kommentiert und bewertet. Das wollte sie nicht tun und das ist, glaube ich, natürlich neben der Abneigung gegen Friedrich Merz, der eigentliche Grund, warum sie sich jetzt im Rahmen der CDU nicht mehr engagiert oder einmischt.
Die Ära Merkel
SWR1: Mein Eindruck ist, die Ära Merkel wird gerade politisch. Es wird viel über die Ampel geschimpft. Dabei hat die Regierung ja auch mit Folgen der Merkel-Zeit zu kämpfen, wie bsp. Klimaschutz, marode Infrastruktur, Migration.
Bollmann: Ja, klar, absolut. Ich finde diese außenpolitische Kritik an Merkel teilweise etwas überzogen. Sie gehörte zu den ersten westlichen Politikern, die ganz klar gesehen haben, wie gefährlich Putin ist. Dass sie so vorsichtig war im Umgang mit Russland, lag ja daran, dass sie ihn für gefährlich hielt und nicht daran, dass sie ihn unterschätzt hat.
Die Probleme, auch was die Russlandpolitik betraf, lagen in der Tat auf innenpolitischem Gebiet. Sie hat sich nicht getraut, eine andere Energiepolitik durchzusetzen. Das hätte sie, glaube ich, auch die Macht kosten können – auch innerhalb ihrer eigenen Partei. Sie hat sich nicht getraut, eine effiziente Bundeswehrreform zu machen.
Ich glaube, sie hatte im zunehmenden Verlauf ihrer Karriere auch ein immer pessimistischeres Bild von der Veränderungsbereitschaft der Deutschen. Sie dachte, das ist irgendwie ein träges Land, wo man nichts zustande bringt, und das hat sie dann irgendwann auch gar nicht mehr versucht.
Sie hat es zweimal versucht, 2003 Leipziger Parteitag, Wirtschaftsreformen und 2015 Flüchtlingskrise, wo glaube ich, ein Antrieb ihrer Politik auch war, das Land offener und beweglicher zu machen. Merkel hat beide Male festgestellt, dass es sie beinahe die Macht gekostet hätte und dann hat sie es bleiben lassen.
SWR1: Das heißt, Selbstkritik oder gar ein schlechtes Gewissen ist bei Merkel schwer vorstellbar?
Bollmann: Na ja, ich finde die Art und Weise, wie sie jetzt in der Öffentlichkeit auftritt, (...) in der Tat auch ein bisschen schwierig. Diese Haltung ich lass mich da auf gar keine Diskussionen ein, ist dann vielleicht auch ein bisschen schwierig für eine ehemalige Bundeskanzlerin.
Was ich aber schon glaube ist, dass sie die Schwierigkeiten, die die Ampel jetzt hat, doch vielleicht mit einer gewissen (...) Genugtuung zur Kenntnis nimmt. Wenn ich, Angela Merkel das gemacht hätte, was jetzt viele Leute von mir verlangen im Nachhinein, eine ambitioniertere Klimapolitik zu machen, die Bundeswehr oder die Bahn zu reformieren, daran wäre ich doch gescheitert, wahrscheinlich, und dann wäre es mir so gegangen wie der Abwehrregierung jetzt.
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Autobiografie Angela Merkel – "Freiheit"
SWR1: Was ist von Merkel noch zu erwarten außer ihrer Autobiografie?
Bollmann: Na ja, was sie da in der Autobiografie offenbaren wird, ist doch schon spannend genug. Ich glaube, die großen Geheimnisse werden es nicht sein, aber vielleicht eine Antwort auf die Frage, wie sie selbst ihren eigenen Lebensweg sieht.
Und ich glaube, dieser Titel "Freiheit" deutet auch schon so ein bisschen darauf hin, dass es auch stark um die DDR-Zeit gehen wird, ihren Weg aus diesem autoritären Regime in die Demokratie.
Und ich würde fast wetten, dass das in den USA oder generell im angelsächsischen Raum noch mal ein größerer Verkaufserfolg werden wird als in Deutschland. Erst recht, wenn Donald Trump gewählt werden sollte, denn als Trump Präsident war, galt sie in den liberalen Kreisen der USA als die Gegenspielerin, das positive Gegenbeispiel. Und ich glaube, dass sie, was den Verkauf des Buches betrifft, ein bisschen auf diesen Effekt setzen wird.
Das Gespräch führte SWR1 Moderatorin Claudia Deeg.
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