Wir haben mit dem Sozialwissenschaftler Professor Stefan Sell über seine Einschätzung zum Thema Pflegeversicherung gesprochen.
Die Pflegeversicherung steckt tief in der Krise. Anfang der Woche kam die Nachricht, sie steht vor der Pleite. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) widerspricht. Er gesteht allerdings eine "schwierige Lage" ein und er will in wenigen Wochen ein Finanzkonzept vorlegen. Professor Stephan Sell von der Hochschule Koblenz beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema.
Pflegeversicherung schwer im Defizit
SWR1: Wie dramatisch ist ihrer Einschätzung nach die Lage?
Professor Stefan Sell: Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung, die ja - ganz wichtig - nur einen Teil der Pflegekosten abdeckt, ist dramatisch. Wir haben schon vor zwei, drei Jahren darauf hingewiesen, dass man dringend eine finanzielle Besserstellung der Pflegeversicherung erreichen muss. Ansonsten läuft die Pflegeversicherung ins Defizit. Das ist jetzt passiert. Es geht hier um wirklich große Beträge!
Ich darf daran erinnern, wir geben nur aus Mitteln der Pflegeversicherung über 60 Milliarden Euro für die Langzeitpflege - also die Altenpflege - aus. Dazu kommen noch die Leistungen der Pflegebedürftigen, Eigenanteile und die wichtige Leistung der pflegenden Angehörigen. Das ist also nur ein Teil, aber da sind wir schwer im Defizit.
SWR1: Das lässt sich kurzfristig nur durch höhere Beiträge bezahlen, oder?
Sell: Ja, wir werden jetzt Opfer auch der vergangenen Unterlassung. Ich darf darauf hinweisen, dass der Bundesgesundheitsminister für das laufende Jahr 2024 zum Beispiel den Bundeszuschuss aus Steuermitteln in Höhe von einer Milliarde Euro gestrichen hat. Sie erinnern sich, die Ampelkoalition hat jeden Euro gesucht für den Haushalt dieses Jahr und da hat man eine Milliarde Euro an Steuermitteln schlichtweg gestrichen.
SWR1: Wenn kein Geld da ist, gibt es noch weniger Möglichkeiten Personal zu finden. Ein Teufelskreis, oder?
Sell: Wir stecken kurzfristig in einen Teufelskreis, den man allerdings mit dem klassischen Instrument der Beitragssatzanhebung, zumindest vorübergehend, lösen kann. Aber das strukturelle Problem, vor dem wir schon seit vielen Jahren warnen und darauf hinweisen, nimmt jetzt an Geschwindigkeit zu.
Was mir am meisten Sorgen macht: Über 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden nicht in den Pflegeheimen gepflegt, sondern von ihren Angehörigen zu Hause. Und die sind massiv unter Druck. Dort sehen wir tatsächlich, dass sehr viele pflegende Angehörige über Jahre des Pflegens ihre eigene Gesundheit "vernutzen". Viele der pflegenden Frauen landen in der Alters- und Einkommensarmut. Und das sind die eigentlich großen Herausforderungen. An deutlich mehr Geld in der Pflege geht kein Weg vorbei.
Leben im Alten- und Pflegeheim Pflegeheim: Wer zahlt, wenn das eigene Geld nicht für die Pflege reicht
Immer mehr alte Menschen leben im Pflegeheim. Und die Betreuung wird immer teurer. Was kostet ein Platz im Heim? Was muss ich selbst zahlen und was notfalls die eigenen Kinder?
Mehr tun als Beitragssätze der Pflegeversicherung anheben
SWR1: Das "Vernutzen" eigener Ressourcen geht auf Kosten der eigenen Gesundheit, Zukunft und Rente?
Sell: Ja, ich will das nur in einer Zahl deutlich machen. Die pflegenden Angehörigen haben eine doppelt bis dreifach so hohe Wahrscheinlichkeit, selbst pflegebedürftig zu werden, wie Menschen im gleichen Alter, die keine Angehörige pflegen.
Das ist ein dramatischer Befund, weil viele der pflegenden Angehörigen - teilweise über viele Jahre hinweg, ohne Pause, rund um die Uhr und ohne Erholung - sich bei der Betreuung und Versorgung ihrer Angehörigen aufopfern. Das ist das eigentliche große Problemfeld, vor dem wir stehen.
Wir müssen auch in die Verbesserung der Hilfe für die pflegenden Angehörigen investieren. Um es deutlich zu sagen: An deutlich mehr Geld in der Pflege unserer älteren Menschen, geht kein Weg vorbei. Da reden wir nicht mehr nur über eine Anhebung der Beitragssätze in der Pflegeversicherung, ob nun 0,3 oder 0,6 Prozentpunkte. Sondern wir reden über viele Milliarden, die wir jetzt auch investieren müssten, zum Beispiel in den Ausbau neuer Wohnformen als Alternative zum Heim in den Kommunen.
SWR1: Was auf uns alle zukommen wird, sind also höhere Beiträge im kommenden Jahr?
Sell: Auf alle Fälle! Schon geplant war, zu Beginn des kommenden Jahres, eine Beitragssatzanhebung von 0,2 Prozentpunkten. Da sagt die Politik, wir werden wohl 0,3 Prozent haben. Die Kranken- und Pflegekassen haben aber im Mai 2024 bereits 0,63 Prozentpunkte Anhebung vorausgesagt, nur um das Defizit, das zum Teil wirklich selbst hausgemacht wurde, auszugleichen und um die Zeit bis zur Bundestagswahl im Herbst des kommenden Jahres, wenn sie denn dann stattfindet und nicht vorher, zu überbrücken.
Das Gespräch führte Claudia Deeg.
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