Andy: Trauma bewältigen mit der Macht der Bilder

Stand
Autor/in
Stefanie Meinecke

Menschen auf Fotos ganz nah kommen

"Glatte" Oberflächen haben Andy Reiner nie interessiert – er will zeigen, was darunter liegt: das Einzigartige, das Defizit und auch das Leid. Seine Fotos berühren, es gelingt ihm Menschen zu öffnen.

»Ich feiere jeden Menschen, der sich mit seinem Defizit outet und sagt, er leidet darunter, weil: die haben Bock etwas zu verändern.«

Foto-Arbeiten von Andy Reiner

Schwere Schicksalsschläge im Leben

Andy Reiner weiß, wie sich der Kampf des Lebens anfühlt. Sein Vater stirbt, als er noch ein Kind ist, seine Mutter kommt nie wieder richtig auf die Beine, wird depressiv. Vier Mal versucht sie sich umzubringen, beim fünften Mal gelingt es ihr. Am Abend vor Andys 21. Geburtstag.

»Ich habe sie eine Zeit lang echt gehasst für das, was sie mir angetan hat. Für das, was sie gemacht hat. Heute verstehe ich es.«

Bereits vor dem Tod seiner Mutter war Andy abgedriftet: immer eine extrem kurze Zündschnur, er schlug oft und schnell zu. Wütend, verzweifelt und keiner da, den es interessiert hat. Jemand, der ihm Kontra hätte geben können - oder Hilfe.

»Wer schert sich denn um den anderen, wenn’s belastend ist? Und: psychisch ist nochmal anders, als wenn ich Krebs habe oder den Fuß gebrochen - da habe ich was Greifbares.« 

Der Weg in die Psychiatrie

Eine Zeit lang hat Andy Reiner als Zimmermann gearbeitet, hatte sogar einen eigenen Betrieb. Als der kaputt ging, ging gar nichts mehr. Er sucht Hilfe bei einer Beratungsstelle in Ulm. Die Gespräche tun ihm gut, aber sie helfen ihm nicht dauerhaft. Er ahnt, dass nur stationäre Hilfe wirken wird – und trickst: er behauptet, dass er sich etwas antun will. Die Suiziddrohung ist seine Eintrittskarte in die geschlossene Psychiatrie. Andy fährt hin und weist sich selbst ein.

»Das war meine Rettung. Dieses Stigma, dieses "psychisch krank sein" anzuerkennen, zu sagen "mit mir stimmt was nicht", das hat mich gerettet. Weil was wäre denn sonst die nächste Eskalationsstufe gewesen? Ich weiß es nicht.«

Die Diagnose lautet "Posttraumatisches Belastungssyndrom". Er reist in eine auf Traumatherapie spezialisierte Klinik in Königsfeld im Schwarzwald - mit all seinen Verlustängsten, seiner Wut, seiner Trauer und all dem verspulten und verdrängten Leben. Lange tut sich gar nichts.

Rettung mit der Küchenmaschine

Hilfreich wirkt der Ansatz eines Therapeuten, der ihn fragt, ob er sich an etwas Wohltuendes erinnern kann. Andy erinnert sich, wie seine Mutter jeden Samstagmorgen Kuchen gebacken hat. Als Kind saß er dann im Frottee-Schlafanzug am warmen Kamin in der Küche.

»Da habe ich mich so wohlgefühlt. Ich war geborgen: Hab meine Mutter um mich gehabt, dieses monotone "Mmmmm" der Küchenmaschine und die Wärme im Rücken.«

Der Therapeut nimmt daraufhin das Geräusch einer Küchenmaschine auf und gibt es Andy Reiner auf einem mp3-Player mit Kopfhörern. Immer wenn Andy das Gefühl habe, dass Emotionen hochkommen, solle er sich einen Heizkörper suchen, das Küchenmaschinen-Geräusch einschalten und die Augen schließen.

»Das hat gewirkt. Eine blöde Küchenmaschine. Einfach so, wo ich gefühlt habe: "Du bist safe, du bist sicher, du bist umringt von was, was du magst". Und dann konnte man die schwierigen Themen anpacken.«

Andy Reiner

Neuanfang mit schwerem Start

Die Rückkehr in den Alltag läuft beschissen. Als ob Andy Reiner einen Stempel mit der Aufschrift "War in der Klapse" auf der Stirn trägt. Er wird durch die Hartz IV Mühle getrieben und bekommt schließlich eine Umschulung zum Fotografen bewilligt. Da ist Andy 37 Jahre alt. Zwei Jahre Ausbildung in einem Studio in Biberach.

Die Fotografin belächelt ihn, als er für eine Arbeit in der Berufsschule ins Hospiz geht, um zu fotografieren. Dort arbeitet er tagelang mit, holt erst dann seine Kamera und erlebt, wie die Menschen sich ihm öffnen.

»Ich sag immer, ich kann mitschwätzen. Letztendlich ist es ja immer das Gleiche: Leid oder Trauer treibt den Menschen soweit, bis er ein Defizit hat und nicht mehr funktioniert. Es ist egal, was es ist - Verlust der Arbeitsstelle oder sonst was. Es läuft immer aufs Gleiche raus: Er leidet darunter. Und wenn du das Gefühl kennst, dann kann ich mich ganz schnell mit dem Menschen identifizieren und denen auf Augenhöhe begegnen. Und das ist ganz wichtig.«

Menschen sichtbar machen: "Sichtlichmensch"

Andy Reiner macht sich als Fotograf selbstständig und gründet "Sichtlichmensch". Er fotografiert Musiker, Schauspieler, Sportler, ist als Pressefotograf unterwegs. Am liebsten arbeitet er aber an seinen eigenen Projekten. Die denkt er sich nicht aus - sie kommen meist zu ihm.

Er besucht mit seiner Kamera Behinderte und Gestorbene. Er setzt sich zu Menschen, die trauern und zu solchen, denen der Job wegrutscht und die ins Bodenlose schauen. Er tut das ruhig und feinfühlig.

Einfach mal hinschauen, hinfühlen oder noch besser mitfühlen. Kein großes Drama machen, sondern still erfassen, was es so alles gibt – an Leid und Belastung um uns herum. Wenn seine Bilder berühren, sagt Andy Reiner, dann ist das mehr als genug für ihn.

»Ich hätte mir damals vielleicht auch nen Fotografen gewünscht, der kommt und sagt: "So ich mach jetzt ne Serie über Jugendliche, deren Eltern suizidieren oder es immer versuchen". Nur diese Headline zu sagen: "Da ist ein 14-Jähriger, da will sich die Mutter suizidieren - was macht das mit dem Kind?" Dass man das wahrnimmt, dass es so was gibt.«

Film über den Fotografen: "Schattenkind"

Der Stuttgarter Filmautor und Regisseur Jo Müller hat Andy Reiner bei seiner Arbeit als Fotograf begleitet. Entstanden ist der Film "Schattenkind", der gerade in den Kinos anläuft und bei den 56. internationalen Hofer Filmtagen bereits als "Bester Dokumentarfilm" ausgezeichnet wurde.

Eine herzerwärmende Szene zeigt Andy Reiner beim Schmusen mit seinem Ochsen Anton. Er hat das Tier vor zehn Jahren mit der Flasche aufgezogen, irgendwann kam auch Kuh Lore hinzu. Beide leben im Stall neben Andy Reiners Haus.

Alexander Gonschior
Andy Reiner und Regisseur Jo Müller
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Stefanie Meinecke