Directors Statement von Ulrike Ottinger

Gedanken und Anmerkungen zu meiner Faszination für Asien und was mich zu dem Film UNTER SCHNEE führt

Stand
Autor/in
Ulrike Ottinger

Im Hause eines befreundeten Malers durfte ich mit neun Jahren eine mit Ornamenten und Tiermotiven bunt bemalte mongolische Truhe öffnen. Die Gegenstände darin, eine korallene Schnupftabakdose, eine aus Silber getriebene Teeschale und eine weitere aus Wurzelholz, weiße und blaue Hadaks – lange transparente Schals, um Geschenke respektvoll zu überreichen oder zum Opfer an schwierigen Passagen bestimmt – Fell und Hörner eines Wildschafes, Knochenpfeifen und Münzen, dies alles beflügelte meine kindliche Fantasie. Was zunächst als Spiel mit dem Finger auf der Landkarte begann, wurde später zu einer ernsthaften Beschäftigung mit den alten Kulturen Asiens, vor allem ihren elaborierten Musik-, Tanz- und Theaterdramaturgien, und dem Wunsch, endlich zum Ort meiner Fantasien zu reisen. 

Es begann mit der Piratenkönigin MADAME X, deren Abenteuer auf einer Dschunke im chinesischen Meer gedreht werden sollten, dann aber aus Geldmangel auf dem Bodensee stattfanden, also eine weitere Reise in der Fantasie. Danach hielten mich die Spielfilme der Berlin-Trilogie in Atem und im Lande. Die erste asiatische Reise fand nach heute kaum vorstellbaren Anstrengungen und mehrjährigen Bemühungen, bürokratische und politische Hindernisse zu überwinden, schließlich Januar-April 1985 statt. CHINA. DIE KÜNSTE – DER ALLTAG. EINE FILMISCHE REISEBESCHREIBUNG, gedreht im Stil einer „caméra-stylo“, brachte damals Bilder aus einem zwar vieldiskutierten, aber noch völlig fremden Land. Dem folgte das Wagnis eines Spielfilms in der Inneren Mongolei, JOHANNA D‘ARC OF MONGOLIA. Er beginnt in der Transsibirischen Eisenbahn, und Delphine Seyrig als exzentrische britische Ethnologin gibt den Ton des Films an: 

„Es bleibt immer das erste Mal. Gelesenes, die Imagination, die Konfrontation mit der Wirklichkeit. Muss die Imagination die Begegnung mit der Realität scheuen, oder lieben sich beide? Können sie sich verbünden? Verändern sie sich durch die Begegnung? Tauschen sie die Rollen? Es ist immer das erste Mal.“ 

In der Mongolei treffen die westlichen Reisenden auf Nomaden, und die Konfrontationen der Kulturen nehmen ihren Lauf. Aber nicht nur im Film, sondern auch auf unserem Weg durch Steppen, Wüsten und Grasland mit großem Tross, meist ohne Straßen, noch nicht einmal Pisten. Auch die konfliktbeladene Situation zwischen Mongolen, mit denen ich ja arbeiten wollte, und den beherrschenden Chinesen erforderte großes diplomatisches Geschick. Aber es sind gerade diese durchlebten Schwierigkeiten und Hindernisse, die ungewohnten, ständig wechselnden Situationen in einem fremden Land, einer anderen Kultur, die die Voraussetzung für ein allmähliches Verstehen schaffen und so auch wieder Eingang in den Film finden können, ihn reicher, lebendiger machen. Das kulturelle Missverständnis wird erfahrbar und kann in seiner Absurdität und Komik gezeigt werden. Das Zusammentreffen zweier Kulturen kann hart und weich zugleich sein, geprägt sowohl vom Verständnis wie Missverständnis. Das war weder damals noch ist es heute aus unserer Gegenwart wegzudenken. 

TAIGA, mein zweiter Film in der Mongolei, basiert auf einer genauen ethnografischen Beobachtung. Hier konnte ich dem Raum geben, was im Spielfilm JOHANNA D‘ARC OF MONGOLIA aus dramaturgischen Gründen natürlich nicht möglich war. Im äußersten gebirgigen Norden der Mongolei folge ich den Nomaden von ihrem Sommer- zum Herbst- und Winterlager. Ein Epos ihrer Alltagswelt, ihrer Feste und schamanistischen Vorstellungen. 

Für den Film EXIL SHANGHAI nutzte ich seit den frühen Achtziger Jahren jede Auslandsreise, jede Gelegenheit, um zu recherchieren. Der Film berichtet über eine Weltstadt in den Dreißiger/Vierziger Jahren, in der alle politischen und sozialen Probleme der Weltgeschichte zusammentreffen. Alle Beteiligten am Zweiten Weltkrieg, auf beiden Seiten, waren präsent. Die Stadt mit ihrem Freihafen hatte exterritorialen Status und war unter die verschiedenen kolonialen Kräfte aufgeteilt. Nach Shanghai flohen etwa 20.000 europäische Juden vor den Nazis, vor allem aus Deutschland und Österreich. Dort bauten sie Klein-Wien, Klein-Berlin oder Klein-Breslau unter ungeheuerlichen Anstrengungen, unmöglichen Bedingungen und ohne Geld auf. Diese widersprüchliche Stadt hat Modellcharakter und ist im Film zum Spiegel einer zerrissenen Zeit geworden. 

Nach dem Mauerfall wurden plötzlich die ost- und südosteuropäischen Länder erreichbar, und so folgte eine Phase der Beschäftigung mit diesen hochbrisanten Regionen. Sie manifestierte sich in dem Dokumentarfilm SÜDOSTPASSAGE und dem Spielfilm ZWÖLF STÜHLE, der als Vorlage den bekannten odessitischen Roman von Ilf/Petrow hatte. 

Eines Tages erhielt ich aus Korea eine E-Mail mit der Frage, ob ich dort einen Film machen möchte. Ich sagte zu, und so entstand DIE KOREANISCHE HOCHZEITSTRUHE. Auch hier war also eine Truhe zu öffnen, die zu vielen, unter anderem auch sehr amüsanten Erkenntnissen führte. Inzwischen gibt es eine ganze Anzahl von Truhen, nämlich die vielen Metall- und Kartonboxen, in denen all meine Fantasien, Erfahrungen und Erlebnisse enthalten sind, die durch das Öffnen einer ersten und in der Folge immer weiterer Truhen ausgelöst wurden. Kondensiert und in zu Filmen verwandelter Form erblicken sie, immer wieder neu entdeckt, das Licht der Leinwand. 

Diese lange und intensive Beschäftigung mit dem Asiatischen durch das Medium des Films, von der Recherche über das Drehen und die Zeit der Reflektionen beim Schnitt, erklärt warum ich mir das verwandte und doch neue Thema UNTER SCHNEE nicht entgehen lassen konnte. Ausgelöst wurde mein Interesse durch ein japanisches Buch, das im letzten Jahrhundert Furore machte, und das die Lebensbedingungen der Menschen im Schneeland beschrieb, an denen sich bis heute kaum etwas verändert hat. An der Sibirien zugewandten Gebirgsküste Japans schneit es sehr häufig, und alles liegt ein halbes Jahr unter einer meterhohen Schneedecke. Die Bewohner dieser Region mussten ganz neue Lebensweisen, auch Überlebensstrategien entwerfen. Dies ist ihnen auf oft verblüffende Weise gelungen, sogar ohne auf ihre Feste, Rituale und sonstige Annehmlichkeiten zu verzichten. Alle Aktivitäten sind über oder auch unter den Schnee verlegt, und selbst ein Kabuki-Theater mit dem Blumensteg zum Auftritt der Stars wird aus Schnee gebaut. Bei diesem Stoff ist es so, dass in ihm fast all meine Interessen kulminieren, östliche Theaterformen wie Kabuki, No oder Bunraku, Musik, atemberaubende Landschaften, kreative Menschen, welche unter erschwerten Bedingungen ihren Alltag meistern und sich zusammenfinden, um gesellschaftlich und künstlerisch zu arbeiten. 

Eine wichtige rituelle Bedeutung hat in Echigo das Federballspiel. Es wird mit großen Schneeschaufeln gespielt und heißt: den Ball zurückgeben. Es geht ja darum, den Ball, der einem zugeworfen wird, blitzschnell aufzugreifen und ihn wieder zurückzugeben – eben das Spiel der Kulturen, wie es im Idealfall sein sollte. 

Ulrike Ottinger

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Ulrike Ottinger