Zusammenhalt und Wir-Gefühl haben in unserer Gesellschaft eine positive Bedeutung. Aber führt ein Wir-Gefühl nicht auch gleichzeitig zum Ausschluss anderer?
Das "starke Wir" - doch keine so gute Idee?
Politiker tun es. Fußballtrainer auch. Und Aktivisten sowieso. Sie alle schwören auf das "Wir". Spätestens wenn die Lage schwierig wird, ist das Wort Solidarität hoch im Kurs. Dann wird Zusammenhalt gepredigt. Dann müssen wir Seite an Seite stehen. Doch wer gehört zu dem "Wir"? Und wenn es ein "Wir" gibt, gibt es dann auch ein "Die"?
Solidarität als hohes Gut
Albrecht Koschorke forscht an den gesellschaftlich existenziellen Fragen unserer Zeit. Der 63-jährige Literaturwissenschaftler von der Universität Konstanz warnt vor der Suche nach dem “starken Wir”. Es sei ja eine gängige Rede, dass jenes "Wir" in unserer Gesellschaft gestärkt werden solle, so Koschorke. Er sei da jedoch etwas zurückhaltender: “Ich glaube, dass Identität gar kein basales Erfordernis ist, sondern eher ein Stresssymptom”, erklärt der Professor. Das gelte sowohl für die individuelle, als auch für die kollektive Identität. Anders gesagt: Wer glücklich und zufrieden ist, ist nicht so sehr auf das Wir-Gefühl angewiesen.
Das "Wir" kommt nicht aus einem guten Gefühl heraus
Je schwieriger die Situation, desto größer ist das Bedürfnis nach dem Zusammenhalt. “Offensichtlich haben wir gerade so eine Situation von sozialem Stress. Und dann wird diese Frage wichtig”, befindet Koschorke mit Blick auf die Gegenwart. Man könne das an Konflikt-Szenarien sehr gut sehen, erklärt er. Das beste Szenario sei nicht, dass man sich seiner Identität jederzeit bewusst sei. Am Besten sei es vielmehr, wenn man diese Frage vernachlässigen könne. “Bei Licht besehen, besteht ja jede Gruppe aus vielen Teilzugehörigkeiten”, erklärt Koschorke. Im besten Fall sei das Verhältnis zwischen jenen Untergruppen ungeklärt, weil unwichtig. “Wenn diese Klärung aber erforderlich ist, im krassesten Fall in einem Bürgerkriegsszenario, dann wird die Frage der Zugehörigkeit entscheidend. Im Grenzfall sogar eine Frage auf Leben und Tod.” Im friedlichen Zusammenleben ist die Unterscheidung also gar nicht so wichtig - erst im Fall eines Konflikts erscheint es plötzlich unumgänglich, die Entscheidung zu treffen, zu wem man gehören möchte.
Der Wir-Wortschatz ist groß
Blickt man auf die Gegenwart oder die jüngere Vergangenheit, dann fällt auf, wie sehr dieses Narrativ zutrifft. Die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel - unangenehme oder gar gefährliche Themen können Gesellschaften schnell aufspalten. Auch Dr. Anna Pollmann sieht in der Bildung von solchen geschlossenen Identifikationsräumen eine Gefahr. Gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Christopher Möllmann arbeitet derzeit an dem Buch “Schlüsselbegriffe gesellschaftlichen Zusammenhalts. Ein kritisches Vokabular”, das im Jahr 2024 erscheinen soll. “Wir wollten zuerst einmal sehen, wie der Begriff eingesetzt wird und warum er so viel Verbreitung gefunden hat”, erklärt Pollmann. Auffallend sei, so Christopher Möllmann, dass der Begriff des Zusammenhalts einen Appell-Charakter habe. Der Begriff habe eine Struktur, die dazu führe, “dass man immer, wenn man über Zusammenhalt redet, dazu aufruft.” Dazu nennt er ein Beispiel: Erklärt Robert Habeck das Energiesparen zum Zeichen der Solidarität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, dann appelliert er gleichzeitig an die Bevölkerung: Haltet zusammen!
Zusammenhalt als Antwort auf die Krise
“Dann ist das 'Wir' auch nicht mehr fern”, so Möllmann. “Das Zusammenhalten bezieht sich auf Gruppen, deshalb sind Zusammenhalten und das Wir in der Funktionsweise sehr nah beieinander.” Wer zum Zusammenhalten auffordert, der fordert also auch die Bedienung des Wir-Gefühls. Eine Schlussfolgerung, die in diesem Gedankenkosmos unweigerlich an die Warnung Albrecht Koschorkes erinnert: Ein "Wir" beherbergt immer auch ein "Die", also "die Anderen". Fördert Zusammenhalt damit also auch Ausgrenzung? “Zusammenhalt ist im Grunde eine nationale Antwort auf globale Krisenszenarien”, beschreibt Anna Pollmann. Dabei trage die Formel des Zusammenhalts insgesamt zu einer Re-Nationalisierung der Gesellschaft bei, “und zwar nicht von rechts oder rechtsaußen, sondern aus der Mitte heraus”, fügt Möllmann hinzu. Zusammenhalt und Abgrenzung liegen demnach deutlich näher beieinander, als das einer liberalen Gesellschaft bewusst ist.
Die eigene Gruppe für andere offen halten
Doch bei allem Pessimismus - es gibt auch positive Denkansätze. Die Soziologin Sabine Hark beispielsweise schreibt in ihrem jüngsten Buch von einem Ethos der Kohabitation. “Sie versucht darin, die Idee eines globalen 'Wir' zu entwerfen.” Dabei gehe es beispielsweise um die Frage, wem gegenüber wir uns verantwortlich fühlen. “Da müsste man möglicherweise kulturwissenschaftlich weiterdenken, um nicht bei der reinen Skepsis zu bleiben”, so Möllmann. Wichtig sei, so Möllmann, das "Wir" bleibe instabil. Was im ersten Moment schwer zu begreifen scheint, ist eigentlich ganz einfach: Eine Gruppe sollte sich anderen gegenüber öffnen und sie freundlich integrieren - damit das "Wir" keine Mauern baut, sondern dieselben aufweicht.
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