Folgen der Corona-Pandemie

Überlastete Psychiatrien: Werden kranke Kinder weggeschickt?

Stand
Autor/in
Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell.
Elena Weidt
Bild von Elena Weidt, Multimedia-Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell
Onlinefassung
Julia Otto
Lilly Zerbst

Immer mehr Kindern und Jugendlichen geht es aufgrund der Pandemie psychisch schlecht, viele brauchen akut Hilfe. Viele Psychiatrien sind derzeit aber sehr voll. Müssen sie wirklich auswählen, wen sie behandeln? 

Auch die 14-jährige Klara aus dem hier veröffentlichten Video wartet schon sehr lange auf einen passenden Platz in einer Jugendpsychiatrie. Während der Pandemie verschlechterte sich ihre Depression. Sie brauche dringend Hilfe, sagt sie.

Weil immer mehr Kinder akut Hilfe bräuchten, sei das System aber massiv überlastet, warnt Jakob Maske, Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Er löste kürzlich einen Mediensturm aus, weil er sagte, dass die Triage mittlerweile auch in den Kinder- und Jugendpsychiatrien angewandt werde. 

Was ist Triage?

Triage ist eigentlich ein Begriff, der aus der Notfallmedizin stammt. Wenn sehr viele Verletzte gleichzeitig kommen, müssen die Ärzte und Ärztinnen nach bestimmten Kriterien entscheiden, wer prioritär behandelt wird und wer noch etwas warten kann, ohne davon Nachteile zu tragen. Das geschieht aber unter der Voraussetzung, dass alle irgendwann behandelt werden.

Kinder und Jugendpsychiatrien sind überlastet

Laut einer bundesweiten Studie sind mittlerweile fast ein Drittel der Kinder coronabedingt psychisch auffällig. Viele zeigten depressive Störungen oder litten unter Ängsten. 

„In der Medizin ist Triage zunächst mal kein besonderer Begriff, den man täglich benutzt. Wir sehen weiterhin Kinder und Jugendliche, die lange auf ihre Termine in der Kinder- und Jugendpsychiatrie warten. Länger, als sie es sonst tun.“ 

Das sei keine Kritik an den Ärzten, die leisteten hervorragende Arbeit, betont Kinderarzt Maske. Das zeige nur, dass mittlerweile sehr genau hingeschaut werden müsse, wer wann behandelt werde. Und darin sehe er eine große Gefahr. Wenn keine zeitnahe Therapie erfolge, könnten sich psychiatrische Symptome zu Krankheiten entwickeln, sagt Maske.

Lange Wartezeiten

Auch Christian Fleischhaker, kommissarischer ärztlicher Direktor der Freiburger Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, bestätigt einen enormen Anstieg der Patienten, sodass eine „Auswahl“ getroffen werden müsse:

"Wenn sie akut suizidal sind, wenn sie ein Problem haben, wo es um Leib und Leben geht, werden sie sofort aufgenommen. Aber alles was dazwischen liegt, da müssen sie halt viel länger warten. " 

Mehr psychiatrische Notfallpatienten

Offizielle Zahlen, wie belastet die Kinder- und Jugendpsychiatrien derzeit in Deutschland sind, gibt es allerdings nicht. Doch die Nachfrage bei vielen Kliniken deutschlandweit lassen das Ausmaß erahnen. Viele geben an, dass die Anzahl der Notfallpatienten seit Beginn der Pandemie gestiegen sei. Dass sie zum Teil sehr lange Wartezeiten hätten. Dass bereits vor der Pandemie die Auslastung groß gewesen sei.  

Müssen die Psychiatrien auswählen, wen sie behandeln? 

Alle befragten Kliniken betonten aber, dass akut gefährdete Kinder nicht weggeschickt würden: 

 „Der Begriff Triage ist insofern unglücklich, weil er bei den meisten Menschen eine Vorstellung hervorruft, dass Patienten abgewiesen werden. Auch im Notfall und dann keine Versorgung stattfindet. Für ganz Deutschland kann man sagen, dass die notfallmäßig vorgestellten Kinder versorgt werden.“ 

Prof. Tobias Renner, Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie, spricht damit für viele seiner Kollegen und Kolleginnen. Damit die Notfallversorgung garantiert bleibt, arbeiten viele Kliniken aber an und über der Belastungsgrenze. In Tübingen würden derzeit erheblich mehr Patienten versorgt, als die Klinikkapazität vorsehe, so Prof. Renner. Nur die Mehrarbeit der Mitarbeiter mache das möglich. 

Kinder mit psychischen Problemen
Eine Notfallversorgung kann auch in Corona-Zeiten weiterhin in Kinder- und Jugendpsychiatrien stattfinden.

Auch die deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie widerspricht der „Triage“ vehement. Der Begriff aus dem Kriegsrecht sei nicht angemessen. Es gebe zwar durchaus schwierige Engpässe, aber die seien gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bereits früher da gewesen und jetzt durch die Pandemie nur noch verstärkt worden. Akut gefährdete Kinder würden aber auf keinen Fall abgelehnt. 

Lange Wartezeiten auch bei Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche

Auch in die ambulante psychotherapeutische Behandlung könnten die psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen nur selten vermittelt werden. Dort sei es schon vor Corona schwierig gewesen, Kinder und Jugendliche unterzubringen. Und es seien in der Pandemie keine neuen Plätze geschaffen worden.

Also wenn sie zum Beispiel aus einer Angststörung heraus nicht mehr in die Schule gehen können oder den Online-Unterricht nicht schaffen, da müssen sie momentan im Bereich Freiburg/Breisgau rund neun Monate warten, bis sie eine angemessene psychotherapeutische Behandlung bekommen. 

Kinder mit psychischen Problemen
Schon vor Corona waren die psychotherapeutischen Behandlungsplätze begrenzt und es gab oft lange Wartelisten.

Hausärzte behandeln vermehrt psychische Symptome 

Was bleibt, ist die Behandlung beim Kinderarzt. Kinder- und Jugendarzt Till Reckert aus Reutlingen schildert, dass in seine Praxis während der Pandemie viele Kinder und Jugendliche kämen, die statt an den üblichen Infekten an psychischen Symptomen litten: 

"Motivationslosigkeit, chronische Müdigkeit, Lustlosigkeit, Lebensüberdruss. Schlafstörungen, Essstörungen, da ist die ganze Palette mit dabei."

Kinder mit psychischen Problemen
Die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen sind vielfältig durch die belastende Situation während der Pandemie.

Alle Altersgruppen sind betroffen 

Dabei falle keine Altersgruppe besonders auf. Unter den Betroffenen seien genauso Kitakinder wie Schulkinder und Teenager. Auffällig sei dagegen: 

Das sortiere sich mehr entlang der gesellschaftlichen Schichten. Die Kinder und Jugendlichen, die ohnehin schon Probleme hatten, seien durch die Pandemie auch noch stärker betroffen. Doch wenn jetzt ein Kind komme, das schwer depressiv sei, habe Till Reckert oft keine Möglichkeit, es zeitnah unterzubringen: 

"Es kommt zu Drehtürsituationen mit Kriseninterventionen, das hat sich gehäuft. Und die, die keinen Platz bekommen, landen dann wieder beim Kinderarzt." 

Kinder mit psychischen Problemen
Viele Kinder und Jugendliche kommen nun mit psychischen Problemen zum Kinderarzt

Mehr Beachtung für die Bedürfnisse von Heranwachsenden

Die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendliche müsse auch politisch mehr in den Fokus gerückt werden. Das sei bislang viel zu wenig getan worden. Klaas van Aaken, Chefarzt in der Jugendpsychiatrie im Klinikum am Weisenhof in Weinsberg, ist deswegen sehr besorgt und fordert eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen während der Pandemie:

"Weil das ansonsten der Gesellschaft auf die Füße fallen wird, weil diese jungen Menschen, die jetzt sozusagen 14 Monate in ihrer Entwicklung verloren haben, einfach Defizite davontragen, die die Gesellschaft später zu spüren bekommen wird. "