Das Böse sei nach achtzig Jahren „aus der Asche wiedergeboren", hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf sein Land gesagt. Er verglich damit Putins Invasion mit den Gräueltaten der Nazis. Hitler fällt fast jedem sofort ein, wenn von „dem Bösen“ die Rede ist, aber auch Terroristen oder Serienmörder.
Der australische Philosophieprofessor Luke Russell versucht in seinem Buch mit dem Titel „Das Böse. Eine philosophische Spurensuche“, eine Definition des Bösen. Er fragt, wann eine Tat böse ist und wann man einen Menschen als böse bezeichnen kann. Und er will wissen, wie ein Mensch, ein Terrorist zum Beispiel, irrtümlich glauben kann, er tue etwas Gutes, wenn er eine Bombe zündet.
Das sind Spitzfindigkeiten für Philosophen, mag man sagen, doch Luke Russells Auseinandersetzung ist auch für philosophische Laien sehr gut verständlich und flüssig geschrieben. Er zieht viele allgemein bekannte Kriminalfälle oder terroristische Attentate heran, um seine Argumentation zu veranschaulichen und macht sie damit leicht nachvollziehbar.
Vor allem aber führt sein Buch zu der Erkenntnis, dass man nicht leichtfertig jemanden als böse einstufen sollte. Vielleicht hat eine Person mit einer Handlung zwar etwas falsch gemacht, aber keineswegs in böser Absicht gehandelt.
Russell geht von einem konkreten Fall aus, um beispielsweise Böse und Falsch voneinander abzugrenzen: Die US-amerikanische Politikerin Elizabeth Warren nannte es einen „ungeheuer bösen“ Akt, Gläubige während des Ostergottesdienstes umzubringen und bezog sich damit auf eine Reihe von Bombenanschlägen auf Kirchen und Hotels 2019 in Sri Lanka. Eine Terrororganisation hatte dabei 259 Menschen getötet. Warren habe das Wort böse verwendet, schreibt Russell, um den Akt als unverwechselbar, schrecklich und als einen gravierenden Verstoß gegen Gesetz und Moral, als etwas völlig Unbegreifliches zu kennzeichnen. Der Terroranschlag sei natürlich auch falsch gewesen, aber längst nicht alles, was falsch ist, sei deswegen auch böse, argumentiert Russell. Etwas müsse schon, wie die erwähnten Terroranschläge, extrem falsch sein, um auch gleichzeitig böse zu sein. Wobei er zugibt, dass es gar nicht so einfach sei, den Grad von falsch zu finden, ab dem etwas auch böse sei. Er entwickelt allerdings Kriterien dafür: Eine Tat ist für ihn beispielsweise dann böse, wenn sie moralisches Entsetzen auslöst.
Nach der Auseinandersetzung mit der Unbegreiflichkeit des Bösen geht Russell auf die psychische Disposition von Menschen ein, die etwas Böses tun, und spürt deren Motiven nach. Boshaftigkeit kann eines sein, sadistische Lust ebenfalls. Er stellt dabei die provozierende Frage, ob ein Pharmavorstand, der tödliche Nebenwirkungen eines Medikaments um des Profits willen verschweigt, böse genannt werden kann. Er habe schließlich keine böse Absicht gehabt, andere zu töten. Kann ein Mensch, etwa ein Serienmörder, durch und durch und immer böse sein?
Auch mit Hannah Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ setzt er sich auseinander und lehnt es ab, wie sie Böses als banal zu bezeichnen, weil es dessen Bedeutung als etwas extrem Falsches, Unbegreifliches schmälere.
Russell beleuchtet auch, ob diejenigen, die wie die Nazi-Schergen für sich in Anspruch nehmen, nur auf Befehl gemordet zu haben, böse sind oder nicht. Diese Diskussion bricht gerade wieder auf, wenn der ukrainische Präsident fordert, jeden russischen Soldaten vor Gericht zu stellen, der in seinem Land Kriegsverbrechen begeht. Wodurch Luke Russells Buch noch an Aktualität gewinnt.