SWR2 lesenswert Kritik

Iwan Schmeljow – Der Toten Sonne

Stand
Autor/in
Eberhard Falcke

Es herrschen Hunger und Terror auf der Krim. Nach der Oktoberrevolution haben die Bolschewisten die Herrschaft übernommen und bringen ihre „wunderbare Maschine" einer sozialistischen Zukunft auf Touren. Wer jedoch nicht auf der richtigen Seite steht, fühlt sich in die Hölle versetzt. Davon erzählt der russische Autor Iwan Schmeljow (1873-1950) expressiv und bildhaft in seinem Krim-Roman „Der Toten Sonne".

Die Krim ist eine sonnenreiche Gegend. Doch allzu oft in der Geschichte der Halbinsel im Schwarzen Meer fiel das Licht der Sonne auf Grausamkeiten. Besonders dramatisch war die Zeit des russischen Bürgerkriegs zwischen den Bolschewiken und ihren Gegnern, der auf die Oktoberrevolution 1917 folgte und seinen Brennpunkt 1920 auf die Krim verlagerte. Nach dem Sieg über die weißen Truppen des Generals Wrangel übernahmen die Rotarmisten die Macht, und es begann eine Phase der Willkürherrschaft. Der russische Schriftsteller Iwan Schmeljow und seine Frau, die sich 1918 auf der Krim niedergelassen hatten, erlebten die Not und den Terror hautnah. Schon bald darauf ging Schmeljow ins französische Exil und verarbeitete dort seine Erfahrungen in dem Roman mit dem Titel „Der Toten Sonne“.

Doch trotz der zeitlichen Nähe zu den schmerzhaften Erlebnissen bietet der Roman keinen simplen zeithistorischen Realismus, sondern setzt deutliche symbolische und allegorische Akzente. Er ist ein hochverdichtetes poetisches Werk, was jedoch der Anschaulichkeit der Handlung keinerlei Abbruch tut. Von seinem Haus am Berghang hat der namenlose Ich-Erzähler eine weite Aussicht, er überblickt die Berggipfel im Inland und die Küstenstraße am Meer. Wenn sich im Tal Staubwolken erheben, dann weiß er, dass auf der Straße nach Jalta wieder ein Lastwagen mit Todeskandidaten unterwegs ist. Doch viel beklemmender als die Ausblicke auf die fernen Schauplätze des blutigen Zeitgeschehens sind die Szenen, die sich direkt vor der Haustür des Erzählers abspielen. Dort scharren die Hühner mit ihren Küken und betteln um Körner, die es nicht mehr gibt. Es herrscht Hunger bei Mensch und Tier. Die Vorratskammern wurden im Namen der neuen sozialistischen Ordnung ausgeraubt, die Obstbäume umgeschlagen, die Felder von schnapsbefeuerten Revolutionären zerstört. Die Glocken der Kirchen wurden zu Kugeln umgeschmolzen. Die Sonne scheint nicht nur auf Berge und Täler, sie lässt nicht nur die Fenster der Häuser aufblitzen, sie blinkt auch auf den Bajonetten der Rotarmisten. In den Augen der Menschen ist sie zur „Sonne der Toten“ geworden.

Zum Leitmotiv seines Romans hat Schmeljow die Zerstörung gemacht, die Verwandlung eines natürlichen Paradieses in eine menschliche Hölle. Am Ende begrüßen zwar die Amseln einen neuen Frühling, aber die Welt rundherum ist verwüstet, ein Zustand, der auch die Seelen erfasst hat. Immer wieder spricht Schmeljow von der Leere, die sich im Land ausbreitet. 

„Der Toten Sonne“ gilt vielen als Schmeljows stärkster, intensivster Roman. Eindringliche Naturbilder wechseln ab mit dialogreichen Genreszenen aus den Abgründen von Not, Verzweiflung, Brutalität und Gemeinheit. Ohne weiteres könnte man den Roman als Dystopie bezeichnen, nur dass die apokalyptischen Schrecken, mit denen die Bolschewisten eine neue, wunderbare Gesellschaft herbeimetzeln wollten, sich nicht erst in einer fernen Zukunft, sondern bereits in der Gegenwart entfalteten. So sah es jedenfalls Schmeljow. Mit Bitterkeit denkt der Erzähler an die europäischen Geistesmenschen, die mit wohligem Schaudern das große Experiment der Revolution von fern beobachten. Dieser lange vergessene Roman ist große Literatur und erschütterndes Zeitzeugnis zugleich, kongenial ins Deutsche übersetzt von Christiane Pohlmann.

Aus dem Russischen von Christiane Pohlmann
Die Andere Bibliothek, 44 Euro, 320 Seiten
ISBN 978-3-8477-0459-1

Stand
Autor/in
Eberhard Falcke