SWR2 Buch der Woche am 20.4.2015

Wohin treibt Russland? | Übersetzt von K.-D. Schmidt

Stand
Autor/in
Lerke von Saalfeld

Wohin treibt Russland?

Nach Ukraine- und Krim-Krise ist Russland immer stärker isoliert, doch im Land selbst steigt die Zustimmung zur Politik Wladimir Putins. Walter Laqueur erklärt dieses Phänomen und zeigt zugleich, wie brüchig dieser neue Zusammenhalt tatsächlich ist. Er beschäftigt sich mit den Faktoren, die das Land im Innern langsam zersetzen und liefert damit tiefe Einblicke in die Geschichte dieser ehemaligen Weltmacht.

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch hat kürzlich voller Ingrimm festgestellt: "Es bleibt eine schmerzhafte Frage, warum dem friedlichen, politisch korrekten Europa der Aggressor näher und daher verständlicher erscheint als das Opfer seiner Aggression." Erstens hat Andruchowytsch Recht, zweitens ist aber der Aggressor nicht verständlicher, sondern die Politik Putins wird immer rätselhafter. Kehrt hier Zar Iwan der Schreckliche in moderner Verkleidung wieder, wie der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin einst den Kremlherrn literarisch karikiert hat, oder ist Putin ein durch die westliche Arroganz gedemütigter Herrscher, der zurückschlagen muss?

Walter Laqueur verfolgt seit Jahrzehnten mit Sorgfalt und immenser historischer Sachkenntnis die Entwicklung Europas und vor allem der Sowjetunion und dann Russlands. 1921 wurde er in Breslau geboren, 1938 gelang ihm die Flucht nach Palästina, seine Familie wurde in den Konzentrationslagern der NS-Diktatur ermordet. Mit 35 Jahren verließ Laqueur Israel, wurde Historiker und arbeitete als Professor in London und Washington, wo er noch heute lebt und sich publizistisch mit Verve in das politische Geschehen einmischt. Sein jüngstes Buch "Putinismus. Wohin treibt Russland" ist eine sorgenvolle Auseinandersetzung mit Schwerpunkt auf der jüngsten Entwicklung Russlands:

Was versteht Walter Laqueur unter 'Putinismus'?

Verblüffend ist die Dialektik Laqueurs, der immer zunächst positive Feststellungen trifft, um sie im Nachsatz wieder in Frage zu stellen. Laqueur argumentiert vorsichtig und entschieden. Eine Wirtschaftspolitik, die hauptsächlich auf Erdöl und Erdgas setzt, sei eine Katastrophe, und Putin bekomme dies bereits wegen der sinkenden Weltmarktpreise zu spüren. Es seien nicht die europäischen Sanktionen, die Russlands Wirtschaft hauptsächlich bedrohen, sondern die einseitige Ausrichtung auf die Bodenschätze, und die Vernachlässigung der Infrastruktur anderer Wirtschaftszweige, die das Land instabil machten. Das Erdöl sei zum Schlüssel der russischen Innen- und Außenpolitik geworden. Allerdings nicht zum Nutzen der Bevölkerung, nach Laqueurs Quellen leben schon heute 40% der Russen in Armut, 34% sind armutsgefährdet. Der Reichtum des Landes ist in zu wenigen Händen. Ein anderes großes Problem ist die Überzeugung russischer Nationalisten, ihr Land könne nur als Großmacht existieren. Der Verlust der ehemaligen Sowjetrepubliken nach 1991 hat eine tiefe Wunde hinterlassen.

Walter Laqueur sieht Russland nicht von außen bedroht, er beschäftigt sich vielmehr mit den Faktoren, die das Land im Innern zersetzen. Auf die Ukraine geht er nur am Rande ein, weil sein Interesse davon getragen ist, das gesamte Machtgefüge Russlands zu untersuchen, um Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Er richtet dabei sein Augenmerk auch auf Phänomene, die im Westen kaum bekannt sind: die bedrohliche demographische Entwicklung dieses Riesenreiches, das zunehmend, vor allem im sibirischen Nordosten, unter Bevölkerungsschwund leidet, die Landflucht bringt große Probleme für die Provinzen mit sich. Mehr als 200 000 Russen haben im Jahr 2014 das Land ganz verlassen. Ein schon früher von ihm behandeltes Thema ist die Islamisierung jenseits des Ural und im Kaukasus. Hier tickt, so Laqueur, eine Zeitbombe, die von der russischen Führung zu wenig ernst genommen werde. Was die Hoffnungen auf eine neue junge Generation betrifft, ist der Autor eher pessimistisch eingestellt:

In einem Nachwort stellt der Autor die Frage: "Krieg oder Frieden". Dazu seien abschließend zwei Einschätzungen zitiert:

Gravierender ist eine andere Beurteilung:

Fazit: wer wirklich Russland und seine Machtelite besser verstehen will, dem sei das Buch von Walter Laqueur empfohlen.

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Lerke von Saalfeld