„Mama, kannst du uns vorlesen?“
„Mama, kannst du uns vorlesen?“ Dies ist eine Frage, die ich als Mutter einer siebenjährigen Tochter und eines fünfjährigen Sohnes häufig höre. Dies ist aber auch eine Frage, die mich selbst immer wieder in meine eigene Kindheit zurückversetzt. Eine Kindheit, die geprägt ist von schönen Erinnerungen und von tragischen Ereignissen. Eine Kindheit, die ohne Vorwarnungen abrupt mit den Jugoslawienkriegen endete.
Überlebensnotwendig, keine Aufmerksamkeit zu erregen
Als Kind war ich in Serbien zu Hause. Dort gehörte ich der muslimischen Minderheit an, einer Minderheit, die bereits gelernt hatte mit Diskriminierungen und politischen Verfolgungen zu leben. Da wir deutlich spürten, dass wir nicht zur Mehrheitsbevölkerung dazugehörten, lebten wir ruhig und versuchten keine Aufmerksamkeit zu erregen. Wir wussten, dies war überlebensnotwendig.
Meine Mutter zog mich und meine Schwester nach dem frühen Tod meines Vaters alleine groß. In einer Textilfabrik arbeitete sie in einem Drei-Schichten-Betrieb. Meine Schwester und ich wanderten dadurch immer zwischen dem eigenen Zuhause und dem meiner Tante hin und her. Und eine Sache musste immer mit – das Kinderbuch von Jovan Jovanović Zmaj. Auch heute noch höre ich die sanfte Stimme meiner Mutter, wie sie die fröhlichen Kinderlieder rezitiert.
Gefahr für Leib und Leben
Im Zuge der Jugoslawienkriege verschlechterte sich auch unsere Situation zunehmend. Die Gefahr für Leib und Leben rückte immer näher, ein Leben in Sicherheit nicht mehr möglich. Eines Tages packten wir die notwendigsten Sachen und begaben uns auf die Flucht. Neben Familie, Freunde und dem Zuhause mussten wir auch das Kinderbuch zurücklassen.
Kampf ums Bleiberecht, drohende Abschiebung, Kirchenasyl
Mithilfe von Schleusern gelangten wir nach einer langen Reise nach Deutschland. Doch auch hier konnten wir lange keine Sicherheit finden. Der Kampf um das Bleiberecht begann, die Abschiebung drohte, Klagen und sogar ein Kirchenasyl folgten. Und wieder begleiteten mich Bücher: Eingangs um die neue Sprache zu erlernen und dann in fremde Geschichten einzutauchen und der eigenen für eine Zeit zu entfliehen.
Brücken bauen zwischen den Hinzugezogenen und der Mehrheitsgesellschaft
Ich studierte Politik- und Religionswissenschaften, wollte meine Vergangenheit und meine Herkunft besser verstehen. Ich fasste also Fuß in meiner neuen Heimat und doch gehörte ich wieder nicht zur Mehrheitsgesellschaft. Ich entschied mich beruflich genau hier anzudocken. Ich wollte Brücken bauen zwischen den Hinzugezogenen und der Mehrheitsgesellschaft. Heute arbeite ich als Bildungsreferentin für interkulturelle und interreligiöse Arbeit.
Und auch privat bin ich mit Interkulturalität täglich konfrontiert. In einer interkulturellen Ehe lebend versuche ich meinen Kindern auch meine Geschichte zu erzählen. Bücher eignen sich auch hier besonders gut. „Nusret und die Kuh“ ist gerade ein Lieblingsbuch meiner Kinder. Und eine Frage bringt uns immer wieder ins Gespräch: „Mama, kannst du uns vorlesen?“.