Preisverleihung bei den Donaueschinger Musiktagen 2001
Am 21. Oktober 2001 hat der Juryvorsitzende Klaus Ramm während der Donaueschinger Musiktage die Laudatio auf die diesjährige Karl-Sczuka-Preisträgerin Friederike Mayröcker gehalten.
Aus der Laudatio:
"Friederike Mayröcker hat seit den frühen fünfziger Jahren ihr Schreiben in eine Tradition gestellt, welche Literatur nicht mehr als zusammenhängende Schilderung von Figuren oder Geschehnissen begreift, nicht als Gleitmittel für Inhalte oder Botschaften, nicht als poetisch verbrämte Darstellung menschlicher Probleme oder Werte, sondern als einen immer neuen Anlauf, die sprachliche Prägung unserer Weltwahrnehmung, unseres Bewußtseins und unserer Existenz jenseits der liebgewordenen Konventionen ästhetisch zu erkunden."
Einreichungsrekord beim Sczuka-Wettbewerb 2001
Auf die öffentliche Ausschreibung hin erreichten den SWR bis zum Einreichungsschluss 90 Produktionen von 125 Bewerbern aus 26 Ländern: Argentinien, Australien, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Chile, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Israel, Italien, Korea, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, Rußland, Serbien, Schweden, der Schweiz, der Slowakei, Slowenien, Ungarn und den USA.
Die Zahl der Einreichungen, unter denen 27 freie Autorenproduktionen sind, erreicht damit eine neue Rekordmarke. Sie bestätigt das wachsende internationale Interesse am Wettbewerb um den Karl Sczuka Preis, das sich bereits in den vergangenen Jahren zeigte. Etwa ein Drittel der Werke kommen von ausländischen Produzenten. Hörspielabteilungen und andere Ressorts der ARD-Rundfunkanstalten und des Deutschlandradios produzierten 45 und damit die Hälfte der eingereichten Werke, von denen manche als Auftragswerke ebenfalls im Ausland realisiert wurden.
Preisträgerin
Friederike Mayröcker (1924-2021) war eine der bedeutendsten zeitgenössischen Dichterinnen. Ihr umfangreiches Werk, das sie seit 1946 veröffentlicht, umfasst Lyrik, Prosa, Essays, Kinderbücher, Theater- und Hörstücke, Drehbücher und Zeichnungen. Geehrt wurde Friederike Mayröcker mit zahlreichen Preisen.
Biografie
Geboren 20. Dezember 1924 in Wien. Private Volksschule, Hauptschule, Kaufmännische Wirtschaftsschule, Externistenmatura, Staatsprüfung Englisch.
1939 erste literarische Arbeiten
1942-1945 Luftwaffenhelferin
1946-1969 Englischlehrerin an Wiener Hauptschulen
1946 erste Veröffentlichungen in der Wiener Avantgarde
Seit 1954 Freundschaft mit Ernst Jandl. Beginn der Zusammenarbeit mit Jandl, Rühm und anderen Mitgliedern der Wiener Gruppe
1956 erste Buchveröffentlichung: "Larifari. Ein konfuses Buch"
1966 Rowohlt veröffentlicht "Tod durch Musen. Poetische Texte"
1967 Beginn der Hörspielarbeit
1968 Hörspielpreis der Kriegsblinden (mit Ernst Jandl)
1969 Beurlaubung vom Lehramt
1970-71 Gast des DAAD (Berliner Künstlerprogramm) in Berlin
1975 Österreichischer Würdigungspreis
1976 Preis der Stadt Wien
1977 Georg-Trakl-Preis
1982 Anton-Wildgans-Preis
1982 Großer Österreichischer Staatspreis
1982 Roswitha-von-Gandersheim-Preis
1985 Literaturpreis des Südwestfunks
1985 Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold
1987 Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst der Republik Österreich
1989 Hauptpreis der Deutschen Industrie
1991 erste Ausstellungen mit Zeichnungen in der Galerie Gerold, Wien
1993 Friedrich-Hölderlin-Preis
1994 "manuskripte"-Preis
1996 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
1996 Else-Lasker-Schüler-Preis
1997 Meersburger-Droste-Preis
1997 America Awards Prize
2001 Ehrendoktorat der Universität Bielefeld,
Karl-Sczuka-Preis und Georg-Büchner-Preis
Preiswerk
Ein neues poetisches Hörstück der in Wien lebenden Dichterin, über die Werke eines der großen Maler des 20.Jahrhunderts.
Nach Picasso und Max Ernst wurden hier Bilder von Henri Matisse in Friederike Mayröckers poetischer Sprachkomposition zur Quelle der Inspiration. In einem Quasi-Dialog zwischen einer weiblichen "Generalstimme" und der Stimme des Malers läßt sie den Hörer am Prozeß ihres Zugangs teilnehmen. Durch ein Leben und Denken in den Bildtexten des Malers gelingt allmählich eine Anverwandlung, Einverleibung und poetische Umformung in die Klangfarbenkomposition einer Dichterin. Im Zusammenfall von Reflexion und Vollzug erfolgt ein intermediales Wechselspiel zwischen gemalter und geschriebener Poesie im Medium Radio, in dem das Hören des Sehens rätselhafter Verbindungen zwischen den Dingen in neu hervorgebrachten Zeichen-Zusammenhängen möglich wird.
"Sie haben mit Ihren Bildern meinen Leib vom Schädel zur Fuszohle durchdrungen, ORANGE, eine orangefarbene Partitur aus meiner Person: Passion herausgeschnitten, - getrennt mit diesem Rosenskalpell, mit diesem Ihren Rosenskalpell, in Moll im Lokal. Aber von einem solchen Blau! Es hat mir das Herz zerrissen."
Friederike Mayröcker
Stimmen:
Friederike Mayröcker, Gerhard Rühm und Klaus Schöning
Komposition, Klavier
und Celesta:
Gerhard Rühm
Toningenieur:
Benedikt Bitzenhofer
Tontechnik:
Jeanette Wirtz-Fabian
Realisation und
Redaktion:
Klaus Schöning
Produktion:
WDR Studio Akustische Kunst 2001
Ursendung:
3.2.2001
Dauer:
35’05 Minuten
Förderpreisträger
Blagomir Alexiev, geboren 1954 in Varna/ Bulgarien, beendete seine Schulzeit 1973 in Sofia und arbeitete dort 1977-84 als Musiker und 1984-97 als Toningenieur im Studio der Nationalen Theater- und Filmakademie. 1993 gründete er sein Privatstudio "ARS Digital Studio" für Kino- und TV-Postproduction. Seit 1986 zahlreiche Klangkompositionen. 1988 quadrophone Klanginstallation "State Ready" für eine Ausstellung experimenteller Arbeiten von Kunststudenten in Sofia.
1989 wurden erstmals Kompositionen von Alexiev beim "Musica Nova"-Festival in Sofia, beim "Electronic Spring" in Wien und bei den "March Music Days" in Rusze (Rousse)/ Bulgarien aufgeführt. Seit 1990 ist er mit elektroakustischen Stücken regelmäßig beim Forum "Computer Space" vertreten. 2000 Filmmusik und Tonarbeit beim Film "Passions for Lea" (Regie: Nikolay Yotov).
Ausgewählte Kompositionen von Blagomir Alexiev
1986: "The Sound", "State Ready"
1987: "Music for violin and a drop"
1988: "Only for Tape"
1989: "Alisa"
2001: "In the End of the Road" (Karl-Sczuka-Förderpreis 2001)
Förderpreiswerk
"In the End of the Road" ist eine Trilogie von Klangkompositionen, die der bulgarische Komponist Blagomir Alexiev als Autorenproduktion in dem 1993 von ihm gegründeten "ARS Digital Studio" in Sofia entwickelt hat. Einer der drei Teile wurde am 6.9.2001 vom niederländischen Radio "Concert Zender" urgesendet, die komplette Trilogie am 3.7.2001 von der Hörspielabteilung des Nationalen Bulgarischen Rundfunks.
Das erste Stück: "Hard Connection"
Der erste Teil hat sich aus der Idee des Klangraums entwickelt und beruht auf Klängen einer weiblichen Stimme. Der Autor versteht sie als Trägerin persönlichen Ausdrucks. Er zerlegt die Stimme in ein Audio-Spektrum, um so eine Matrix seelischen Ausdrucks zu finden, aus der er ein neues Klangbild formt.
Das zweite Stück: "Journey to My Father"
Das zweite Stück hat der Autor seinem verstorbenen Vater gewidmet. Er hat dafür auch eine Aufnahme der Stimme seiner Mutter verwendet, die zwei Lieder in armenischer Sprache singt und ein kurzes armenisches Gedicht rezitiert. Es ist ein Stück über das Unmögliche, in dem er die Erfahrung der Annäherung an etwas Unerreichbares vermitteln möchte - um denen, die nicht mehr bei ihm sind, die Dinge mitzuteilen, die er zu sagen versäumt hatte.
Das dritte Stück: "Everything around Me Is Falling"
Der dritte Teil ist die Widerspiegelung eines Traums - des Traums von einem Leben, in dem man seine Wahl trifft, in dem man entweder verliert oder gewinnt, sich aber in jedem Fall vorwärts bewegen muß.
In allen drei Stücken werden in einem präzisen Rhythmus wiederholt etliche, gewaltige und nachhallende Perkussionsinstrumente verwendet. Sie stellen entweder den Anfang oder das Ende einer neuen rhythmischen Einheit dar, durch die jedes Mal ein neuer Aspekt hervorgehoben wird - die Ankündigung einer neuen Richtung im persönlichen Leben. In dem Stück "Everything around Me Is Falling" deuten die nachhallenden Perkussionsinstrumente darauf hin, dass die Türen, die nach und nach hinter jedem geschlossen werden, tatsächlich ein und die selbe sind. Es ist die "Tür der Zeit". Der Klang erreicht seinen Höhepunkt in einer einengenden Welt. Der einzige Ausweg aus den bedrückenden Erinnerungen besteht darin aufzuwachen. Es ist an der Zeit aufzugeben. Dann, wenn die Straße ans Ende gelangt.
Produktion: ARS Digital Studio / Sofia
September 2000 - Juni 2001
Ursendung: 3. Juli 2001, Bulgarian National Radio
Drama Department
Redaktion: Daniela Manolova
Preisverleihung
Die unabhängige Jury unter Vorsitz des Literaturwissenschaftlers Klaus Ramm gab für ihre Entscheidung folgende Begründung:
"Friederike Mayröckers Hörspiel 'Das Couvert der Vögel' ist - auf singuläre Weise in der heutigen Hörspiellandschaft - ganz aus dem Reichtum der Sprache entwickelt.
Es entzündet seine poetische Imagination an den Bildern und Arbeiten des Malers Henri Matisse. Die Vielfalt und Schönheit der poetischen Sprache und die Intensität der sie artikulierenden Stimmen machen das Medium Radio zu einem Ort der Verknüpfung von Hörbarem und Sichtbarem, von Bilderreiz und Klangfarbenfülle. Die Musikalität des poetischen Sprechens gewinnt durch die sparsam akzentuierende Komposition Gerhard Rühms an Weite und Dichte.
'Das Couvert der Vögel' ist in seinem Zusammenklang von Sprache, Bild und Musik von einer betörenden Überzeugungskraft, die den Hörer staunend zurücklässt."
Die unabhängige Jury
Klaus Ramm - Vorsitzender; Literaturwissenschaftler
Heinrich Vormweg - Literaturkritiker und Juryvorsitzender 1985-98
Christina Weiss - Kritikerin und Hamburger Kultursenatorin
Monika Lichtenfeld - Kritikerin
Johann-Georg Schaarschmidt - Musiktheater-Regisseur und früherer Freiburger Musikhochschulrektor