Jubelnd versammeln sich die Völker im magischen Land Oz, als Glinda die Gute, die Hexe des Nordens, singend verkündet: Die böse Hexe des Westens ist tot. Lange Zeit hielt sie Oz als mächtige Widersacherin des Zauberers in Atem. Ein Mädchen namens Dorothy Gale, das bei einem Wirbelsturm mitsamt Haus aus Kansas nach Oz geweht wurde, brachte die Hexe mit einem Eimer Wasser zum Schmelzen.
So weit, so bekannt: Der Jubel über den Tod der Hexe läutet im berühmten Filmmusical „Der Zauberer von Oz” von 1939 das Finale ein. Das Fantasy-Musical „Wicked“ beginnt an dieser Stelle und wirft die Frage auf, wie die Hexe wurde, wer sie war.
College-Drama im Lande Oz
Von Kindesbeinen an leidet Elphaba (Cynthia Erivo) darunter, anders zu sein. Grund dafür ist ihre – auch im Land Oz ungewöhnliche – grüne Hautfarbe. Als sie ihre Schwester an die prestigeträchtige Glizz-Universität begleitet, bemerkt die dortige Dekanin Madame Akaber (Michelle Yeoh) ihre magischen Fähigkeiten. Elphaba soll lernen, ihre Kräfte zu beherrschen und so vielleicht eines Tages zur rechten Hand des Zauberers werden.
Das Leben an der Glizz wäre für sie deutlich leichter, wenn sie sich nicht das Zimmer mit der so schönen wie selbstverliebten Glinda (Ariana Grande) teilen müsste. Aus anfänglicher Abscheu entwickelt sich am Ende aber doch eine tiefe Freundschaft.
Unbehagen bereitet Elphaba auch die tierfeindliche Stimmung, die in Oz um sich greift. Menschen und sprechende Tiere leben hier eigentlich Seite an Seite. Doch nun verlieren die Tiere ihre Sprache und werden aus der Gesellschaft ausgestoßen. Als Elphaba ein Treffen mit dem Zauberer (Jeff Goldblum) angeboten wird, will sie sich für die Belange der Tiere einsetzen.
Absolution einer Filmschurkin
Es ist wirklich keine einfache Aufgabe, die sich „Wicked“ gestellt hat: die Absolution eines der berühmtesten Bösewichte der Filmgeschichte. Victor Flemings Film nach den Kinderbüchern von L. Frank Baum ist einer von nur einer Handvoll von Filmen, die aufgrund ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung ihren Weg auf die Liste des Unesco-Weltdokumentenerbes gefunden haben.
Doch der Film muss nicht nur den Ansprüchen der Fans des „Zauberers von Oz“ genügen. Das Musical „Wicked“ gehört zu den beliebtesten Bühnenstücken der vergangenen Jahrzehnte und bringt selbst Heerscharen von kritischen Fans mit sich.
Das Stück mit Musik aus der Feder von Komponist Stephen Schwarz („Pippin“, „Der Prinz von Ägypten“) wird seit über 20 Jahren am Broadway gespielt und zählt zu den erfolgreichsten Musicals überhaupt.
Wenig „Oztalgie“ beim deutschen Publikum
In Deutschland wurde „Wicked“ 2007 im Stuttgarter Palladium-Theater erstaufgeführt. Doch so richtig warm geworden ist das deutsche Publikum nie mit dem Stück. Unter Musical-Fans genießen die Songs regelrechten Kultstatus, doch mit Dauerbrennern wie „Tanz der Vampire“ oder „Der König der Löwen“ konnte „Wicked“ nicht konkurrieren.
Der wichtigste Grund dafür dürfte in der fehlenden Nostalgie liegen. Während „Der Zauberer von Oz“ in den Vereinigten Staaten Generationen von Kindern begeisterte, blieb er in Deutschland wenig mehr als eine Randerscheinung. Hat nun die Filmfassung von „Wicked“ das Potenzial, das zu ändern?
Neuer Goldstandard für Musicalfilme
Die Antwort ist ein vollumfängliches: Ja. Denn was Regisseur John M. Chu gelingt, ist nicht weniger als ein visuelles Meisterwerk, das einen neuen Goldstandard für Musical-Verfilmungen setzen könnte.
Die Handlung des Musicals wurde auf zwei Filme ausgewalzt. Allein der erste Teil, der den ersten Akt des Bühnenstücks behandelt, kommt auf eine Länge von mehr als zweieinhalb Stunden. Den Drehbuchautorinnen Dana Fox und Winnie Holzmann (letztere verfasste bereits das Musicalskript) gelingt es trotzdem, die Handlung so detailreich auszuschmücken, dass man sich mit schierer Freude in der fantastischen Welt verliert.
Dass John M. Chu einschlägige Erfahrung als Regisseur von Musik- und Tanzfilmen hat, wird vor allem in den großen, von Christopher Scott choreografierten Tanznummern deutlich. Diese gelingen spektakulär. Auf TikTok wird eine Sequenz aus der Nummer „What Is This Feeling“ bereits marketingwirksam nachgetanzt.
Cynthia Erivo als Elphaba ist eine Naturgewalt
Bei aller visueller Opulenz und Ausstattungsschlacht gelingen Chu aber auch die kleinen, emotionalen Momente – nicht zuletzt dank seiner herausragenden Hauptdarstellerin Cynthia Erivo. Der 37 Jahre alte Musicalstar schafft es, Elphabas kindliche Verletzlichkeit genauso einzufangen wie ihren unbändigen Kampfgeist. Die Übergänge zwischen Sprechtext und Gesang gelingen ihr bemerkenswert natürlich und fließend.
Im Dramatischen hat es Popstar Ariana Grande schwer, in ihrer Rolle als blonde Glinda mitzuhalten. Dafür gelingen ihr gerade die komischen Momente dank vollem Körpereinsatz. Auch gesanglich macht sie mit kristallklaren Höhen eine gute Figur. Genauso überzeugen der musicalerfahrene Jonathan Bailey, bekannt aus „Bridgerton“, als Herzensbrecher Fiyero und Jeff Goldblum als kauziger Zauberer von Oz.
Mit dem Showstopper „Defying Gravity“, in der deutschen Fassung „Frei und schwerelos“, entlässt Regisseur Chu sein Publikum in die einjährige Wartezeit bis zum zweiten Teil. Dann wird die Geschichte in die Handlung von „Der Zauberer von Oz“ übergehen.
Warten fällt schwer, man wäre nur zu gerne noch ein Weilchen in dieser fantastischen Welt geblieben.