Wenn Kinder und Jugendliche Kerstin Theisens Behandlungszimmer in Daun betreten, beginnt die Diagnose schon bei den Kuscheltieren: Kinder mit ADHS stehen dann mit großen Augen vor dem Huhn-Stofftier, das die Augen ebenso weit aufreißt. Solche mit Angststörung umklammern lieber einen Hund oder ein Plüsch-Smiley.
Daran lässt sich schon viel ablesen, sagt die Fachfrau, die als psychologische Leiterin der Institutsambulanz in der Tagesklinik Daun tätig ist. In der Region ist es die erste Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die Schwierigkeiten haben: "Die Spannweite geht von Lese-Rechtschreib-Problemen bis zu Suizidgedanken. Grob gesagt." Es gehe also darum, festzustellen, ob eine akute Behandlung nötig ist.
Die Patienten kommen aus allen sozialen Schichten und hätten die unterschiedlichsten Probleme: "Manche werden mit einer aktuellen Situation konfrontiert wie der Flut oder mit einem Autounfall. Bei anderen fragt man sich: Ist das jetzt schon ein Problem oder ist es eigentlich noch im Normbereich? Also, ist jemand nur verträumt oder hat er ernsthafte Konzentrationsprobleme?"
Mehr Kinder und Jugendliche suchen Hilfe
Ob es jetzt wirklich mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gibt als früher, kann Theisen nicht sagen. Fest steht aber: Es melden sich mehr bei der Ambulanz und suchen Hilfe. "Man redet mehr darüber als früher. Die Hemmschwelle ist niedriger geworden, zu sagen: Ich muss mir Hilfe holen."
Die Ursachen für die Probleme der Jugendlichen liegen in der heutigen Zeit, sagt Theisen: "Tendenziell ist die Art, wie die Jugendlichen aktuell aufwachsen können, Fluch und Segen gleichermaßen." Denn sie dürften sich frei entfalten und klar kommunizieren, welche Interessen sie haben oder auch welche sexuelle Ausrichtung: "Aber so ist es tatsächlich auch schwierig für sie, eine Identität zu finden."
Zweifel und dass fast alles immer im Fluss ist, sei im Moment eine Modeerscheinung, die aber auch ganz viel Unsicherheit mit sich bringe: "In dem Moment, wo ich keine genaue Definition für mich selbst habe, bin ich meiner selbst unsicher. Bin ich hier eigentlich richtig oder bin ich ein Alien, das hier zufällig gelandet ist und alle anderen wissen ihren Weg? Und ich bin der einzige, der keinen Plan hat."
Corona und Ukraine-Krieg sind auch Ursachen
Auch die Coronazeit habe ihr Übriges getan, als Kinder und Jugendliche isoliert und dann viel online unterwegs waren: "Online passiert ganz viel, was man nicht direkt fühlen kann. Man hat keinen direkten menschlichen Kontakt. Da ist viel vorgespielt, was in Wahrheit anders ist." Und auch dann könnten Jugendliche wieder keine klare Definition für sich selbst finden.
Die Hochwasserkatastrophe 2021, die auch die Vulkaneifel getroffen hat, und der Ukraine-Krieg tragen auch zu dieser Verunsicherung bei, sagt Theisen. Die Sicherheit, dass die Welt sich weiter dreht und morgen wieder die Sonne aufgeht, sei dadurch bei Jugendlichen, aber auch schon bei Kindern, verloren gegangen.
Einsamkeit, Angststörungen und Depressionen
Aber reichen diese Unsicherheiten, damit sich daraus bei den Betroffenen ernsthafte psychische Probleme wie Depressionen entwickeln? "Grundsätzlich gehen wir von vielen Faktoren aus: Wir haben sowohl genetische Anteile als auch Anteile aus der Erziehung oder den Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben."
Treffen mehrere kritische Punkte aufeinander und kommt dann noch die Pubertät hinzu, bei der die Chemie im Körper ohnehin durcheinander geworfen wird, dann können Depressionen oder Angststörungen entstehen, sagt Theisen.
Einsamkeit durch das Internet
Anlässlich der Aktionswoche "Gemeinsam aus der Einsamkeit" hat die Bertelsmann-Stiftung eine Umfrage veröffentlicht, wonach sich etwa jeder zehnte Befragte zwischen 16 und 30 Jahren "sehr einsam" fühlt. Auch das hat etwas mit unserer modernen Zeit zu tun, analysiert Theisen: "Der Mensch ist schon von Urzeiten an so programmiert, dass er in einer Gruppe am sichersten aufgehoben ist."
Im Internet könne man sich zwar einer Gruppe anschließen, sitze aber trotzdem allein, ohne menschlichen Kontakt vorm Computer. "Und das ist tatsächlich der Punkt, wo viele sagen, sie sind einsam. Obwohl sie potenziell 1.000 Follower in irgendeinem Computersystem haben."
Um die Jugendlichen aus Einsamkeit oder gar Depressionen herauszuholen, setzt man in der Tagesklinik Daun auf Aktivierung: "Wir holen die Jugendlichen aus ihrer Box heraus. Sie sollen mit anderen interagieren und sich auch körperlich betätigen. Um zu spüren, wie das Leben außerhalb dieser Box tatsächlich ist."
Zu wenig Therapie-Angebote in der Vulkaneifel
Solche Therapien zu ermöglichen, ist aber schwer in der Vulkaneifel, sagt Theisen. Gerade im ländlichen Bereich gebe es nicht genügend Kinderärzte, niedergelassene Psychiater und Therapeuten. Patienten, die von der Institutsambulanz eine Empfehlung haben, eine ambulante Therapie zu machen, müssten ein bis anderthalb Jahre auf den Therapieplatz warten.
Kinder- und auch Hausärzte würden dann bei Theisen anrufen: "Die fragen dann: Was mache ich denn jetzt mit dem Patienten? Sie haben gesagt, der braucht Hilfe, der kriegt aber keine. Und da sind wir im Moment auch etwas ratlos, weil wir auch nicht mehr Plätze haben."
Den Grund sieht Theisen im Ländlichen selbst: Es sei schwierig, Fachpersonal aufs Land zu bekommen, wenn es nicht schon aus der Eifel stammt. Ein Führerschein sei hier ein Muss, weder Patienten noch Therapeuten könnten öffentliche Verkehrsmittel in ausreichender Taktung nutzen, um zur Therapie zu gelangen.
Keine kurzfristige Lösung in Sicht
Zudem seien die Zahlen, nach denen die Kassenärztliche Vereinigung (KV) entscheidet, wie viele Therapeuten es in der Vulkaneifel gibt, veraltet: "Die KV ist momentan dabei, die Therapeutenplätze aufzustocken. Da ist ein Prozess in Gang, bis der aber tatsächlich bei den Patienten ankommt, wird das noch dauern."
Was könnte für Kerstin Theisen zur Lösung beitragen? "Ein Zauberstab? Eine schnelle Lösung wird es dafür tatsächlich nicht geben. Aber wir haben Patienten, die brauchen eigentlich eine schnelle Lösung." Zwar könnten Patienten einen sogenannten Akuttermin bekommen und auch die Lebenshilfe unterstütze - das helfe aber nicht langfristig.
Im Moment bleibt Kerstin Theisen und ihren Kolleginnen und Kollegen in der Institutsambulanz in Daun also nur, ihre Arbeit weiterzumachen: "Zwischen Trier und Bad Neuenahr sind wir die einzige Anlaufstelle für Kindern und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. Wir wurden vor zehn Jahren gegründet und werden mehr gebraucht denn je."