Buch-Tipp

Biographie eines fiktiven Streichquartetts: Aja Gabels „Das Ensemble“

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AUTOR/IN
Desirée Löffler

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Eigentlich hatte die Amerikanerin Aja Gabel ganz andere Pläne für ihr Leben: Sie wollte Cellistin werden, hat am College Musik studiert – und wandte sich dann doch ihrer zweiten Leidenschaft zu, dem Schreiben. Jetzt ist ihr Debütroman ins Deutsche übersetzt worden. Die Musik spielt noch immer eine wichtige Rolle, denn in „Das Ensemble“ erzählt Aja Gabel die Biographie eines fiktiven Streichquartetts. Desirée Löffler hat das Buch gelesen.

„Vor dem Konzert waren sie ganz normale Leute, hungrig, frustriert, traurig, frierend und was immer man sich an menschlichen Gefühlen und Regungen vorstellen wollte. Aber kaum dass sie die Bühne betraten, und das beeindruckte mich ungeheuer, waren sie fast schon übermenschlich. Kraftvoll, kontrolliert, mit einer gemeinsamen, vielschichtigen Stimme, und ihnen gelang die innerlichste der menschlichen Meisterleistungen. Bis in die hintersten Reihen kommunizierten sie etwas, das emotional und außersprachlich war.“

Das sagt eine Komponistin im letzten Drittel von „Das Ensemble“ über die Mitglieder des fiktiven Van Ness Quartetts. Bis die vier Musiker an diesen Punkt kommen, ist es allerdings ein weiter und steiniger Weg: Die Geschichte des Quartetts beginnt im Jahr 1994 in San Francisco. Zu dieser Zeit sind die ambitionierte Jana, der unbekümmerte Henry, die ätherische Brit und der ungelenke Daniel noch im Studium. Und auch zwischenmenschlich sind sie sozusagen noch in der Ausbildung.

 „Könntest Du Dir bitte vor dem Konzert noch die Haare schneiden lassen?“ sagte Jana zu ihm. „Frag mich einfach noch fünfmal. Und warum rufst Du nicht meine Mutter an, damit sie mich ebenfalls daran erinnert?“

Auf den 400 Seiten von „Das Ensemble“ erzählt Aja Gabel, wie diese vier Einzelkämpfer zu einem Quartett zusammenwachsen, einer Gemeinschaft, einer Familie. Dieser Prozess zieht sich über mehr als 20 Jahre, und in dieser Zeit verändert sich immer wieder die Dynamik zwischen ihnen. Hier entstehen Konflikte, da ziehen zwei an einem Strang, nur um sich im nächsten Moment wieder voneinander zu lösen und sich einem anderen Quartettmitglied zuzuwenden. Je weiter man liest, desto mehr erinnert das an genau das, was die vier auf der Bühne spielen: an die Faktur von Streichquartetten mit ihren sich immer neu ineinanderwindenden Stimmen.

Auch die grobe Struktur von Aja Gabels Debüt lehnt sich ganz offen an die eines Streichquartetts an. Der Roman hat vier Teile, so wie die meisten Quartette viersätzig sind. Im ersten stellt Aja Gabel die Instrumente und ihre Themen vor: Das, was jeden der Musiker beschäftigt, die Fragen, die er oder sie dem Leben stellt. Die vier Musiker interagieren in diesem Teil natürlich schon miteinander, sprechen aber kaum über die Konflikte, die unter der Oberfläche brodeln. Der zweite Teil ist sehr emotional. Hier brechen sich die Konflikte allmählich Bahn, bis hin zu einem großen Knall. Dann folgt ein heiterer, harmonischer, schnell erzählter dritter Teil, die literarische Version eines Scherzos. Das Finale steuert schließlich mit großer Ruhe, fast schon majestätisch, auf das unvermeidliche Ende zu.

Ihr Spiel war nicht mehr kathartisch, nicht mehr diese merkwürdige Mischung aus Schmerz und Genuss, an die man sich in seinen Zanzigern und Dreißigern so gewöhnte. Es war nicht länger Mittel zum Zweck, keine Möglichkeit, verhaltenes auszudrücken, sich zu befreien, Angst und Panik hinter sich zu lassen, sondern wie das Anheben eines Tuches, um das Geheimnis zu lüften, die schönen Räder und Getriebe unter der Oberfläche des Lebens.“

Diese Passage ist ein gutes Beispiel dafür, dass Aja Gabel Musik auch noch auf andere Weise nutzt – nicht nur, um ihrem Roman eine ungewöhnliche Struktur zu geben, sondern auch, um etwas über Menschen zu sagen und über das, was zwischen ihnen passiert. Die Worte, die sie dafür findet, sind häufig sehr schlicht – und trotzdem leuchtend klar.

„Im „Serioso“ ging es um Liebe, und Brit versuchte, an den großen Teil ihres Lebens zu denken, in dem sie Daniel nicht geliebt hatte, aber während sie spielten, war das unmöglich. Sein Jungengesicht verzog sich unkontrollierbar, erotisch. Sie fragte sich, ob er Ähnliches empfand, wenn er sie ansah, wenn sie denn überhaupt einer ansah. Und sie dachte nein, so spielt sie nicht. Brit mochte die Nuancen, mochte es, die unterstützende Stimme zu spielen, die harmonische Lage, von der man nicht wusste, dass man sie hörte.“

Nicht zuletzt dank solcher Passagen sind Aja Gabels Protagonisten nuanciert, und ihre Entwicklung glaubwürdig. „Das Ensemble“ ist kein Roman mit viel Dramatik und großen Momenten – im Gegenteil weicht Aja Gabel den konfliktreichsten Szenen häufig aus, erzählt Streit oder Trennungen als Rückblenden oder fasst sie nur knapp zusammen. Stattdessen interessiert sie sich für die Momente dazwischen, für die Dramatik des Alltäglichen. Dafür, wie Menschen sich selbst und ihre Mitmenschen in Einklang bringen können.

„Innere Harmonie?“ fragte Brit. Daniel lachte, aber sie fuhr fort: „Nein, ernsthaft. Wie kannst du mit dir selbst harmonieren?“ Daniel hörte abrupt auf zu lachen und faltete die Hände auf dem Tisch. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber in mir sind viele Tonlagen.“

Fast wäre Aja Gabel Cellistin geworden. Dass sie sich anders entschieden hat, ist ein Glück. Sonst hätte sie womöglich nie ihre Gabe entdeckt, mit der Sprache der Musik Geschichten zu erzählen – von Menschen und ihrem fragilen, chaotischen, ewig veränderlichen Miteinander.

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Desirée Löffler