Der Zeichner Ersin Karabulut wurde in den 2000er-Jahren berühmt in der türkischen Satire-Szene. Aber er musste erleben, wie Erdoğan die reiche Satire-Kultur der Türkei immer weiter in die Enge treiben ließ. Heute lebt Ersin Karabulut im Pariser Exil und legt den ersten Band einer gezeichneten Autobiografie vor: geniale Kunst, die Leben und Politik verbindet.
Türkischer Karikaturist zeichnet seine Autobiografie
Manchmal spielt der Comiczeichner Ersin Karabulut mit sich selbst ein Spiel. Er stellt sich dann vor, dass hinter seinen Augen sein jüngeres Ich auf die Gegenwart blickt: „Wenn mein 24-jähriges Ich durch meine heutigen Augen schauen würde, wäre es bestimmt zu Tode erschrocken.“
„Die Hamas ist keine Terrororganisation“ – Das sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach dem brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel und will offenbar den Applaus der arabischen Welt. Erdoğan inszeniert sich als islamischer Volkstribun – wie das angefangen hat, auch das erzählt „Das Tagebuch der Unruhe“ des türkischen Comickünstlers Ersin Karabulut.
Es ist nicht nur die Bildergeschichte eines Künstlerlebens, des Lebensweges von Ersin Karabulut aus den grauen Istanbuler Vorstädten mitten ins kreative Zentrum der Metropole am Bosporus. Geschickt verknüpft Karabulut Leben, Kunst und Politik in der Türkei der letzten dreißig Jahre, während des Aufstiegs von Erdoğan.
Hommage an die einzigartige türkische Satire-Kultur
Zugleich ist dieser autobiografische Polit-Comic eine Hommage an eine einzigartige Satire-Kultur. Was in Westeuropa viele nicht wissen: Die moderne Türkei hatte jahrzehntelang eine pulsierende, verrückte Szene von Satire-Magazinen.
Derber, sexuell aufgeladener Humor gegenüber den Mächtigen, wild gezeichnet, in türkischen Heften wie „Girgir“ – in den 1980er-Jahren nach dem US-Magazin „MAD“ und der russischen Zeitschrift „Krokodil“ das auflagenstärkste Satire-Magazin der Welt.
Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Die Serie „Harem“, die den staatlichen Osmanenkult aufs Korn nimmt und in der sich clevere Haremsdamen über einen kleinen, impotenten Sultan mit Stinkefüßen lustig machen.
Erdoğan kämpfte gezielt gegen die türkische Satire an
Auch Erdoğan hat in seinen Anfangsjahren als Ministerpräsident den Spott noch voll abbekommen. Und damals schon versucht, die kritischen Karikaturisten mit allen juristischen Mitteln mundtot zu machen. So verklagte er einen Zeichner von „Cumhuriyet“, der ihn als in Wollknäueln verhedderte Katze dargestellt hatte.
Aus Solidarität brachte dann die Zeitschrift „Penguen“ den tierischen Erdoğan gleich in acht Varianten auf dem Cover: als Kröte, Kamel oder Giraffe. Wieder klagte Erdoğan und wollte für jede der acht Tierkarikaturen 5000 Lira Schadensersatz.
Übersehen hatte er bei seiner Klage allerdings das neunte Tier: den kleinen Pinguin, der auf jedem Cover von „Penguen“ über den Schriftzug läuft und der nun auch die Gesichtszüge von Erdoğan trug.
Keine Heldengeschichte des Widerstands
„Scheeeiße! Das gibt großen Ärger!“, dachte sich Ersin Karabulut damals. Aber 2006 funktionierte der Rechtsstaat in der Türkei noch einigermaßen und Erdoğan scheiterte vor Gericht gegen „Penguen“. Heute gibt es das mutige Magazin nicht mehr.
Und Zeichner Ersin Karabulut lebt in Paris im Exil. Mit seinem „Tagebuch der Unruhe“ erzählt er keine Heldengeschichte des Widerstands. Die inneren Kämpfe und die Zweifel eines Künstlers sind sein Thema. Ersin Karabuluts Zeichenstrich verbindet Komik und Ernst über düsteren politischen Abgründen.
Aber zum Glück hat dieser mutige Zeichner die Comichelden seiner Kindheit – Superman, Asterix oder Lucky Luke – die ihm bei seiner Arbeit über die Schulter schauen: Kindheit, Komik und die Anarchie der Sprechblasen: vielleicht die besten Mittel gegen nationalistischen Autoritarismus, nicht nur in der Türkei.
„Egal wie schlimm es kommt“, so der 42-jährige Zeichner, „ich habe meine Helden, denen ich vertraue und die mir immer den richtigen Weg weisen. Und mein großer Wunsch ist es, eines Tages einer von ihnen zu sein.“
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